Material
Es handelt sich um einen 11 x 7,7 cm großen Notizblock. Er befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am
Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Der Block umfasst 100 karierte Seiten, die von 1-96 paginiert wurden, wobei die ersten beiden Seiten unpaginiert sind
und die Ziffer 47 drei Mal vergeben wurde: 47, 47a, 47b. Die Blockseiten waren mit der Klebebindung am Umschlag befestigt. Im Verlauf der Benutzung haben sie sich jedoch daraus gelöst,
weshalb sie von Peter Handke mit Klebestreifen fixiert wurden. Eines der Blätter klebte er dabei versehentlich verkehrt herum ein. Die im DLA Marbach kurz nach Ankauf
angefertigten Scans dokumentieren die Klebung mit der verkehrten Seitenzählung: auf 48 folgen hier die Paginierungen 50, 49 und 51. Auch die Reihenfolge der Seiten 74/75, 76/77 und
78/79 war falsch; Handke machte deshalb nachträglich Anmerkungen zur korrekten Abfolge (vgl. ES. 81, 82 und 83). Aus konservatorischen Gründen hat man im Archiv die Klebestreifen am
Original in der Zwischenzeit von den Blättern gelöst; sie liegen nun lose und in der richtigen Reihung im Umschlag. Auch in der digitalen Edition wurden die Notizblockscans
wieder nach Handkes ursprünglicher Paginierung vor seiner Klebefixierung umgereiht. Aufgrund der Klebespuren ist die Schrift an den oberen Seitenrändern am Original wie auf dem Scan
teilweise schlecht, an manchen Stellen gar nicht mehr zu entziffern, und auch die unteren Blattränder sind durch die Benutzung an manchen Stellen stark in Mitleidenschaft gezogen
worden (umgeknickt, verblasst, vergilbt, verwischt), sodass zuweilen die letzte Zeile am Blatt kaum zu lesen ist. Der vordere und der hintere Umschlag sind bemalt. Es lässt sich
nicht eindeutig sagen, von wem die Zeichnungen stammen; möglicherweise war der Notizblock mit der Umschlaggestaltung ein Geschenk von Amina Handke an ihren Vater, darauf deutet
folgende Notiz hin: "bonne fête papa et je tʼembrasse beaucoup Amina" (ES. 3). Im Original
ist eine getrocknete Pflanze als Beilage enthalten (ursprünglich eingelegt zwischen den Editionsseiten 40
und 41).
Aufenthaltsorte
Ab dem 13. Juni dürfte Handke noch einige Tage in Paris gewesen sein, vermutlich am 19. Juni fuhren er und seine Tochter Amina mit dem Ehepaar Greinert für einen
Kurzurlaub nach Cabourg an die französische Atlantikküste (vgl. ES. 45). Am Tag der
Rückreise (20. Juni) schrieb Handke aus dem Grand Hôtel de Cabourg an Siegfried Unseld, er werde morgen den letzten Tag in seiner Wohnung (Boulevard de Montmorency in Paris Auteuil)
verbringen (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 308). Er zog nicht sofort in ein neues Domizil um, sondern wollte bis Anfang September ohne Wohnung bleiben, wie er Unseld ankündigte:
Ab 2. Juli werde er mehrere Wochen lang durch Österreich reisen (siehe ebd., vgl. auch Kepplinger-Prinz). Die Tage bis zu Aminas Schulschluss verbrachte Handke im Pariser
Luxushotel Plaza Athenée in der Rue Montaigne (ES. 65-73). Ihre Reise führte ihn und seine Tochter dann zunächst nach Italien: Den 24. und 25. Juni verbrachten sie in Mailand
(im Hotel Principe Di Savoia). Ihre nächste Station war Arquà Petrarca (26. Juni), wo der Petrarca-Preis an Sarah Kirsch und Ernst Meister verliehen wurde; dieser Anlass wird
im Notizbuch jedoch nicht eigens erwähnt. Danach verbrachte Handke noch einige Tage in Venedig und auf Torcello und reiste am 30. Juni weiter nach Florenz, Vicchio, wo er Libgart
Schwarz und seine Tochter getroffen haben dürfte. Alleine fuhr Handke weiter nach Gemona und besah den Schauplatz des großen Erdbebens von Friaul, das sich wenige Wochen zuvor
ereignet hatte. Über Tarvis reiste er dann nach Österreich und kam am 3. Juli in Velden an, wo er "spät am Abend"
(ES. 100) notierte: "Die Frage hier: Wo bin ich?" (Ebd.).
Unter dem Datum des 4. Juli heißt es in einer Notiz: "[I]diotische Buntheit am See" (ES. 101).
Einen Tag später brach Handke von Velden zu einer mehrwöchigen Reise auf, die ihn quer durch Österreich führen sollte, "dieses charakterlose Land, dieses Niemandsland"
(ES. 100), wie er noch in Velden schreibt. Aufzeichnungen zu dieser Reise, auf
der Handke Material für das Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" sammeln wollte, sind in den drei folgenden Notizbüchern NB 007, NB W 13 und NB W12 enthalten.
Themen
Teils über mehrere Seiten hinweg ziehen sich im vorliegenden Notizblock Einträge, in denen Handke Bewusstseinseindrücke und Sinneswahrnehmungen festhielt, etwa als er am
13. Juni weintrinkend auf der Terrasse saß und "Sonntag-Abendgeräusche" mitschrieb (ES. 5-8).
Der Mietvertrag der Wohnung am Boulevard de Montmorency, in der Handke seit 1973 gelebt hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits gekündigt, er verbrachte gemeinsam mit Tochter Amina
die letzte Woche dort. Wahrscheinlich saß er auf der Terrasse in dem kleinen Garten des ebenerdigen Apartments, der immer wieder erwähnt wird – viele der Notizen im ersten Teil
des Notizblocks dürften abends an diesem Ort entstanden sein. Handke versuchte, seine Sinneseindrücke möglichst unmittelbar mitzuschreiben und setzte damit die ab März 1976 mit
NB 002 etablierte Schreibpraxis einer Mitschrift zweckfreier Wahrnehmungen um. Seine seitenlange 'Reportage' der häuslichen Geräuschkulisse im ersten Teil
des Notizblocks wird manchmal unterbrochen von assoziativen Gedankensplittern wie z.B. "G. wird verrückt, weil sie nicht reich wird (Problem französischer Frauen)"
(ES. 8). In Cabourg wiederum entstand eine besonders ausführliche Notiz, in der Handke
zwei jugendliche Paare am Strand beschreibt, deren 'verdinglichtes' gestisches Repertoire aus "kleinen Ritualen" ihm "wie eine fremdartige Montage aus Karatefilmen, Liebesfilmen,
(Porno) und Abenteuerfilmen (Piraten)" erschien (ES. 46-49).
Die dreiwöchige Trennung von seiner Tochter ab Anfang Juli dürfte nicht einfach gewesen sein; viele von Handkes Einträgen kreisen um die Liebe zu ihr und die Sorge um sie:
"Abwesenheit von einem geliebten Wesen: jede kleine Alltagshandlung wird oft gleichsam zu einer heidnischen Weihehandlung zu seinem Wohlergehen (selbst das Lächerlichste wie
das Treten des Wasserhebels im Zugklosett)" (ES. 93). Nachdem er Amina zu ihrer Mutter
Libgart Schwarz gebracht hatte, reiste Handke alleine weiter nach Gemona, um den Schauplatz des großen Erdbebens zu sehen, das am 6. Mai 1976 das Friaul erschüttert hatte.
Dieses Ereignis weckte bei Handke ein länger anhaltendes Interesse für Erdbeben: Die Katastrophe selbst hatte er in einem Eintrag vom 7. Mai 1976 jedoch zunächst nur flüchtig
erwähnt: "Die Schlagzeile vom Erdbeben in Europa, und das Räuspern der Frau im stehenden Métrowagen höre ich als ein Schluchzen" (NB 004, ES. 89).
Am nächsten Tag war er mit Amina zu einer rund zweiwöchigen Reise in die USA aufgebrochen; während dieses Aufenthaltes besichtigte Handke das Erdbebeninstitut an einer Universität in
Los Angeles (vgl. NB 005, ES. 20ff.). Am 3. Juli fuhr er schließlich nach Gemona und sah den
Schauplatz des Erdbebens im Friaul mit eigenen Augen. In den dort entstandenen Einträgen beschreibt er vor allem zurückgelassene persönliche Dinge in den zerstörten Häusern der Menschen
(NB 006, ES. 95-98). Seine Faszination für die vom Erdbeben verheerte Gegend spiegelt sich auch
noch in einem Eintrag vom 14. August 1976: "Ich bemerkte in Kärnten, daß ich mich auf das Slowenengebiet zubewegte mit einer Aufregung wie Wochen vorher auf das Erdbebengebiet
(um Gemona; Zell/Pfarre)" (NB W13, ES. 52). Rund zwei Jahre später wird Handke erneut nach
Gemona reisen, wo er am 20. August 1978 eine Zeichnung der "Erdbebenstadt" anfertigen wird (NB 015, ES. 169).
Lektüren
In NB 006 finden sich kaum Lektürespuren. Neben dem Vorwort von Siegfried Kracauers Fragmenten über Geschichte, auf das Handke "[z]ufällig [...]
beim Aufräumen" (ES. 20) stieß, zitiert er lediglich eine Stelle aus Heimito von Doderers
Die Strudlhofstiege. Martin Scorseses Film Taxi Driver erwähnte er im Zusammenhang mit einem Bekannten, der, anders als Handke, nicht von dem
Film begeistert gewesen sein dürfte: "Wie schon ein Film genügt ('Taxi Driver'), und es entsteht zwischen guten Bekannten ein Gespräch, in dem sie merken, plötzlich, was sie schon gleich
am Anfang ihrer Bekanntschaft eigentlich fühlten, ohne davon wissen zu wollen: daß sie eigentlich nichts gemein haben und einander auf immer fremd, ja feind sein werden"
(ES. 40).
Schreibprojekte
Zwei der Vorgängernotizbücher (NB 003 und NB 005) hatte Handke dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet;
dieser Titel scheint im vorliegenden Notizblock weder auf dem Vorsatzblatt noch in den Notizen auf.
Obwohl Handke im Entstehungszeitraum die Druckfahnen von Die linkshändige Frau
korrigierte (vgl. Pektor), finden sich in den Aufzeichnungen keine Spuren davon.
Viele der Notate übernahm Handke in den Journalband Das Gewicht der Welt (1977), wobei er sie
Großteils überarbeitete und redigierte.
Zeichnungen
Der Notizblock beinhaltet nur wenige kleine Zeichnungen, wie etwa eine in die Zeile eingefügte schematische Darstellung einer Umkleidekabine am Strand von Cabourg (Z02/NB 006,
ES. 52) oder ein Drahtgebilde (Z12/NB 006,
ES. 97), das Handke im Erdbebengebiet rund um die Stadt Gemona sah. In der
Basilica di Santa Maria Assunta in Torcello zeichnete er die Handhaltung einer Darstellung des segnenden Jesus ab (Z07/NB 006, ES. 88).
Literaturverzeichnis
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973-1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023.
Pektor = Pektor, Katharina: Ohne Titel. Notizblock, 98 Seiten, 13.06.1976 bis 04.07.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/280. Online abgerufen: 19.11.2022.