Die Aufzeichnungen der ersten Hälfte von Notizbuch 13.06.1976-04.07.1976 (NB 006) entstanden in Paris sowie in Cabourg, wo Peter Handke und seine Tochter Amina mit dem befreundeten Ehepaar Greinert ein Wochenende verbrachten. Mit 21. Juni hatte Handke seine Wohnung am Boulevard de Montmorency aufgegeben, wollte jedoch erst im Herbst eine neue Unterkunft in Paris suchen und in der Zwischenzeit eine mehrwöchige Reise durch Österreich unternehmen. Am 24. Juni fuhr er gemeinsam mit Amina zunächst nach Italien, wo er u.a. an der Verleihung des Petrarca-Preises teilnahm. In der Nähe von Florenz traf er Libgart Schwarz und übergab ihr die gemeinsame Tochter. Alleine reiste er weiter nach Gemona, wo einige Wochen zuvor ein schweres Erdbeben stattgefunden hatte. Seine Reiseroute führte ihn schließlich über Tarvis nach Österreich. Am 3. Juli erreichte er Velden am Wörthersee.
Material
Es handelt sich um einen 11 x 7,7 cm großen Notizblock. Er befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Der Block umfasst 100 karierte Seiten, die von 1-96 paginiert wurden, wobei die ersten beiden Seiten unpaginiert sind und die Ziffer 47 drei Mal vergeben wurde: 47, 47a, 47b. Die Blockseiten waren mit der Klebebindung am Umschlag befestigt. Im Verlauf der Benutzung haben sie sich jedoch daraus gelöst, weshalb sie von Peter Handke mit Klebestreifen fixiert wurden. Eines der Blätter klebte er dabei versehentlich verkehrt herum ein. Die im DLA Marbach kurz nach Ankauf angefertigten Scans dokumentieren die Klebung mit der verkehrten Seitenzählung: auf 48 folgen hier die Paginierungen 50, 49 und 51. Auch die Reihenfolge der Seiten 74/75, 76/77 und 78/79 war falsch; Handke machte deshalb nachträglich Anmerkungen zur korrekten Abfolge (vgl. ES. 81, 82 und 83). Aus konservatorischen Gründen hat man im Archiv die Klebestreifen am Original in der Zwischenzeit von den Blättern gelöst; sie liegen nun lose und in der richtigen Reihung im Umschlag. Auch in der digitalen Edition wurden die Notizblockscans wieder nach Handkes ursprünglicher Paginierung vor seiner Klebefixierung umgereiht. Aufgrund der Klebespuren ist die Schrift an den oberen Seitenrändern am Original wie auf dem Scan teilweise schlecht, an manchen Stellen gar nicht mehr zu entziffern, und auch die unteren Blattränder sind durch die Benutzung an manchen Stellen stark in Mitleidenschaft gezogen worden (umgeknickt, verblasst, vergilbt, verwischt), sodass zuweilen die letzte Zeile am Blatt kaum zu lesen ist. Der vordere und der hintere Umschlag sind bemalt. Es lässt sich nicht eindeutig sagen, von wem die Zeichnungen stammen; möglicherweise war der Notizblock mit der Umschlaggestaltung ein Geschenk von Amina Handke an ihren Vater, darauf deutet folgende Notiz hin: "bonne fête papa et je tʼembrasse beaucoup Amina" (ES. 3). Im Original ist eine getrocknete Pflanze als Beilage enthalten (ursprünglich eingelegt zwischen den Editionsseiten 40 und 41).
Aufenthaltsorte
Ab dem 13. Juni dürfte Handke noch einige Tage in Paris gewesen sein, vermutlich am 19. Juni fuhren er und seine Tochter Amina mit dem Ehepaar Greinert für einen Kurzurlaub nach Cabourg an die französische Atlantikküste (vgl. ES. 45). Am Tag der Rückreise (20. Juni) schrieb Handke aus dem Grand Hôtel de Cabourg an Siegfried Unseld, er werde morgen den letzten Tag in seiner Wohnung (Boulevard de Montmorency in Paris Auteuil) verbringen (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 308). Er zog nicht sofort in ein neues Domizil um, sondern wollte bis Anfang September ohne Wohnung bleiben, wie er Unseld ankündigte: Ab 2. Juli werde er mehrere Wochen lang durch Österreich reisen (siehe ebd., vgl. auch Kepplinger-Prinz). Die Tage bis zu Aminas Schulschluss verbrachte Handke im Pariser Luxushotel Plaza Athenée in der Rue Montaigne (ES. 65-73). Ihre Reise führte ihn und seine Tochter dann zunächst nach Italien: Den 24. und 25. Juni verbrachten sie in Mailand (im Hotel Principe Di Savoia). Ihre nächste Station war Arquà Petrarca (26. Juni), wo der Petrarca-Preis an Sarah Kirsch und Ernst Meister verliehen wurde; dieser Anlass wird im Notizbuch jedoch nicht eigens erwähnt. Danach verbrachte Handke noch einige Tage in Venedig und auf Torcello und reiste am 30. Juni weiter nach Florenz, Vicchio, wo er Libgart Schwarz und seine Tochter getroffen haben dürfte. Alleine fuhr Handke weiter nach Gemona und besah den Schauplatz des großen Erdbebens von Friaul, das sich wenige Wochen zuvor ereignet hatte. Über Tarvis reiste er dann nach Österreich und kam am 3. Juli in Velden an, wo er "spät am Abend" (ES. 100) notierte: "Die Frage hier: Wo bin ich?" (Ebd.). Unter dem Datum des 4. Juli heißt es in einer Notiz: "[I]diotische Buntheit am See" (ES. 101). Einen Tag später brach Handke von Velden zu einer mehrwöchigen Reise auf, die ihn quer durch Österreich führen sollte, "dieses charakterlose Land, dieses Niemandsland" (ES. 100), wie er noch in Velden schreibt. Aufzeichnungen zu dieser Reise, auf der Handke Material für das Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" sammeln wollte, sind in den drei folgenden Notizbüchern NB 007, NB W 13 und NB W12 enthalten.
Themen
Teils über mehrere Seiten hinweg ziehen sich im vorliegenden Notizblock Einträge, in denen Handke Bewusstseinseindrücke und Sinneswahrnehmungen festhielt, etwa als er am 13. Juni weintrinkend auf der Terrasse saß und "Sonntag-Abendgeräusche" mitschrieb (ES. 5-8). Der Mietvertrag der Wohnung am Boulevard de Montmorency, in der Handke seit 1973 gelebt hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits gekündigt, er verbrachte gemeinsam mit Tochter Amina die letzte Woche dort. Wahrscheinlich saß er auf der Terrasse in dem kleinen Garten des ebenerdigen Apartments, der immer wieder erwähnt wird – viele der Notizen im ersten Teil des Notizblocks dürften abends an diesem Ort entstanden sein. Handke versuchte, seine Sinneseindrücke möglichst unmittelbar mitzuschreiben und setzte damit die ab März 1976 mit NB 002 etablierte Schreibpraxis einer Mitschrift zweckfreier Wahrnehmungen um. Seine seitenlange 'Reportage' der häuslichen Geräuschkulisse im ersten Teil des Notizblocks wird manchmal unterbrochen von assoziativen Gedankensplittern wie z.B. "G. wird verrückt, weil sie nicht reich wird (Problem französischer Frauen)" (ES. 8). In Cabourg wiederum entstand eine besonders ausführliche Notiz, in der Handke zwei jugendliche Paare am Strand beschreibt, deren 'verdinglichtes' gestisches Repertoire aus "kleinen Ritualen" ihm "wie eine fremdartige Montage aus Karatefilmen, Liebesfilmen, (Porno) und Abenteuerfilmen (Piraten)" erschien (ES. 46-49).
Die dreiwöchige Trennung von seiner Tochter ab Anfang Juli dürfte nicht einfach gewesen sein; viele von Handkes Einträgen kreisen um die Liebe zu ihr und die Sorge um sie: "Abwesenheit von einem geliebten Wesen: jede kleine Alltagshandlung wird oft gleichsam zu einer heidnischen Weihehandlung zu seinem Wohlergehen (selbst das Lächerlichste wie das Treten des Wasserhebels im Zugklosett)" (ES. 93). Nachdem er Amina zu ihrer Mutter Libgart Schwarz gebracht hatte, reiste Handke alleine weiter nach Gemona, um den Schauplatz des großen Erdbebens zu sehen, das am 6. Mai 1976 das Friaul erschüttert hatte. Dieses Ereignis weckte bei Handke ein länger anhaltendes Interesse für Erdbeben: Die Katastrophe selbst hatte er in einem Eintrag vom 7. Mai 1976 jedoch zunächst nur flüchtig erwähnt: "Die Schlagzeile vom Erdbeben in Europa, und das Räuspern der Frau im stehenden Métrowagen höre ich als ein Schluchzen" (NB 004, ES. 89). Am nächsten Tag war er mit Amina zu einer rund zweiwöchigen Reise in die USA aufgebrochen; während dieses Aufenthaltes besichtigte Handke das Erdbebeninstitut an einer Universität in Los Angeles (vgl. NB 005, ES. 20ff.). Am 3. Juli fuhr er schließlich nach Gemona und sah den Schauplatz des Erdbebens im Friaul mit eigenen Augen. In den dort entstandenen Einträgen beschreibt er vor allem zurückgelassene persönliche Dinge in den zerstörten Häusern der Menschen (NB 006, ES. 95-98). Seine Faszination für die vom Erdbeben verheerte Gegend spiegelt sich auch noch in einem Eintrag vom 14. August 1976: "Ich bemerkte in Kärnten, daß ich mich auf das Slowenengebiet zubewegte mit einer Aufregung wie Wochen vorher auf das Erdbebengebiet (um Gemona; Zell/Pfarre)" (NB W13, ES. 52). Rund zwei Jahre später wird Handke erneut nach Gemona reisen, wo er am 20. August 1978 eine Zeichnung der "Erdbebenstadt" anfertigen wird (NB 015, ES. 169).
Lektüren
In NB 006 finden sich kaum Lektürespuren. Neben dem Vorwort von Siegfried Kracauers Fragmenten über Geschichte, auf das Handke "[z]ufällig [...] beim Aufräumen" (ES. 20) stieß, zitiert er lediglich eine Stelle aus Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege. Martin Scorseses Film Taxi Driver erwähnte er im Zusammenhang mit einem Bekannten, der, anders als Handke, nicht von dem Film begeistert gewesen sein dürfte: "Wie schon ein Film genügt ('Taxi Driver'), und es entsteht zwischen guten Bekannten ein Gespräch, in dem sie merken, plötzlich, was sie schon gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft eigentlich fühlten, ohne davon wissen zu wollen: daß sie eigentlich nichts gemein haben und einander auf immer fremd, ja feind sein werden" (ES. 40).
Schreibprojekte
Zwei der Vorgängernotizbücher (NB 003 und NB 005) hatte Handke dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet; dieser Titel scheint im vorliegenden Notizblock weder auf dem Vorsatzblatt noch in den Notizen auf.
Obwohl Handke im Entstehungszeitraum die Druckfahnen von Die linkshändige Frau korrigierte (vgl. Pektor), finden sich in den Aufzeichnungen keine Spuren davon.
Viele der Notate übernahm Handke in den Journalband Das Gewicht der Welt (1977), wobei er sie Großteils überarbeitete und redigierte.
Zeichnungen
Der Notizblock beinhaltet nur wenige kleine Zeichnungen, wie etwa eine in die Zeile eingefügte schematische Darstellung einer Umkleidekabine am Strand von Cabourg (Z02/NB 006, ES. 52) oder ein Drahtgebilde (Z12/NB 006, ES. 97), das Handke im Erdbebengebiet rund um die Stadt Gemona sah. In der Basilica di Santa Maria Assunta in Torcello zeichnete er die Handhaltung einer Darstellung des segnenden Jesus ab (Z07/NB 006, ES. 88).
Literaturverzeichnis
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973-1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023.
Pektor = Pektor, Katharina: Ohne Titel. Notizblock, 98 Seiten, 13.06.1976 bis 04.07.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/280. Online abgerufen: 19.11.2022.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554390 ]
Beilagen-Signatur: [HS006515008 ]
Material: Notizblock (Marke nicht identifiziert), kariert, Klebebindung
Format: 11 x 7,7 cm
Umschlag: Weißer Kartonumschlag mit Bemalung (Filzstift: gelb, rot, hellgrün und orange) (Z01/NB 006 und Z14/NB006), Vorder- und Rückseite des Umschlags sind mit Klarsichtfolie überklebt
Umfang: 100 Seiten, 108 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I-III, 1-47, 47a, 47b, 48-96, I*
Verwendete Schreibstoffe: Füllfeder (blau), Fineliner (rot, schwarz), Kugelschreiber (schwarz, blau, grün), Filzstift (gelb, rot, grün und orange), Bleistift
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Die Blockseiten waren mit der Klebebindung am Umschlag befestigt. Im Verlauf der Benutzung haben sie sich jedoch daraus gelöst, weshalb sie von Peter Handke mit Klebestreifen fixiert wurden. Eines der Blätter wurde dabei von ihm versehentlich verkehrt herum eingeklebt. Die im DLA Marbach kurz nach Ankauf angefertigten Scans dokumentieren die Klebung mit der verkehrten Seitenzählung: auf 48 folgen hier die Paginierungen 50, 49 und 51. Auch die Reihenfolge der Seiten 74/75, 76/77 und 78/79 ist hier falsch; Handke machte deshalb nachträglich Anmerkungen zur korrekten Abfolge (vgl. ES. 81, 82 und 83). In der Zwischenzeit wurden im Archiv die Klebestreifen am Original aus konservatorischen Gründen von den Blättern gelöst; sie liegen nun lose und in der richtigen Reihung im Umschlag. Auch in der digitalen Edition wurden die Notizblockscans wieder nach Handkes ursprünglicher Paginierung vor der Klebefixierung umgereiht. Die Blätter sind am unteren Rand durch die Benutzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden (umgeknickt, verblasst, vergilbt, verwischt), so dass zuweilen die letzte Zeile am Blatt schlecht zu lesen ist.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/280
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übersetzen, für sich, und wünschte
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er einmal was gestohlen hätte,
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konnte; nicht einmal, um
ihm bei seinen Körper- und
Gesichtszuckungen zuzuschauen,
dazu reich te meine Neugier
mehr. Ich dachte, wie langweilig
sind doch die Verrückten, die
Leute, die immerfort die Welt sich
übersetzen, für sich, und wünschte
mir eine bescheidene Alltäglichkeit
zu erleben. Als ich ihn fragte, ob
er einmal was gestohlen hätte,
sagte er wirklich Ja, sogar einge¬
brochen sei er, weil er eine "bestimmte
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nicht mehr aushielt,
und als ich fragte, ob er erwischt wor¬
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Handke, Peter: Notizbuch 13.06.1976-04.07.1976 (NB 006). Hg. von
Anna Estermann und Katharina Pektor. In:
Ders.: Notizbücher. Digitale Edition. Hg. von Katharina Pektor, Ulrich von Bülow und Bernhard Fetz. Deutsches Literaturarchiv Marbach und Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Release
14.06.2024.
Seite 30.
URL: https:/
Ioannis Fykias (Altgriechisch), Ana Grigalashvili (Georgisch), Angelika Kolesnikow (Russisch), Anna Montané Forasté (Spanisch), Helmut Moysich (Italienisch, Französisch), Martin Springinklee (Steno), Dominik Srienc (Slowenisch) und Dorothea Weber (Latein).
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