Material
Dieses gebundene Notizbuch mit den Maßen 10,4 x 6,6 cm hat einen stabilen roten Umschlag aus Karton mit der weißen Aufschrift "NOTES". Es befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv
Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Das Notizbuch umfasst 96 linierte Seiten, die durchgehend
paginiert sind; dazu kommen jeweils drei vordere und hintere Vorsatzseiten. Am vorderen Vorsatz sind der Aufzeichnungszeitraum "5.7.-21.7.1976" sowie die Adresse des Salzburger Residenz
Verlages vermerkt; auf den beiden ersten Seiten des hinteren Vorsatzes finden sich diverse Adressen von Personen und eines Hotels. Die letzte Seite des hinteren Vorsatzes nützte Handke noch
einmal für Notizen, weshalb er sie mit der Ziffer 97 paginierte. Dem Notizbuch beigelegt ist ein Datumszettel mit der Aufschrift "Juli 1976", der vermutlich ursprünglich auf das Cover geklebt war.
Aufenthaltsorte
Die Einträge in NB 007 entstanden während des ersten Abschnitts einer insgesamt rund zweimonatigen Reise durch Österreich (weitere Aufzeichnungen zu dieser Reise sind in den beiden zeitlich
nachfolgenden Notizbüchern NB W 13 und NB W12 enthalten). Im vorhergehenden Notizbuch hatte sich Handke zuletzt einige Tage in Italien aufgehalten, am 3. Juli reiste er über Tarvis nach Velden
am Wörthersee (vgl. NB 006, ES. 100). Hier beginnen die Aufzeichnungen des vorliegenden Notizbuchs: Am 5. Juli, also zwei Tage nach seiner Ankunft in Kärnten, bricht Handke mit dem Zug nach Oberösterreich
auf – er erwähnt die Stationen Obervellach, Schwarzach-St. Veit und Linz. Wo er von 5. auf den 6. Juli übernachtete (möglicherweise in Salzburg), konnte nicht ermittelt werden, er erreicht
jedenfalls am 6. Juli Freistadt. Am Tag darauf wandert Handke nach einem Besuch in Kefermarkt zu Fuß nach Sandl, wo er die Nacht verbringt. Am 8. Juli führt seine Reiseroute weiter ins nördliche
Niederösterreich, an die damals tschechoslowakische Grenze (Eisener Vorhang) – erwähnt sind die Orte Bad Großpertholz und Lainsitz – bis nach Gmünd. Von dort reist er am nächsten Tag mit der
Schmalspurbahn nach Groß Gerungs und ab da wahrscheinlich zu Fuß weiter nach Zwettl, wo er sich das Stift ansieht, und Rappottenstein. Am nächsten Morgen nimmt er den Bus nach Grein.
Vermutlich traf er dort das Ehepaar Greinert, mit dem er gemeinsam eine Schifffahrt auf der Donau unternahm; die Reisenden dürften einen Stopp in Melk eingelegt und dort das Stift besucht haben.
Am 14. Juli kommt Handke in Wien an, wo er sich mit seinem Bruder Hans trifft, der damals (möglicherweise an der Erdgasleitung Aderklaa – Donaustadt – Simmering) dort arbeitete.
Am 16. Juli reist Handke schließlich von Wien über Salzburg nach Tamsweg, wo er vermutlich Gudrun und Wolfgang Schaffler im Standlhof besucht und mit ihnen eine mehrtägige Wanderung im Hochgebirge
unternahm. Die Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek enthält eine Fotoserie Handkes, in der die geschilderte Reise dokumentiert ist (ÖLA SPH/LW/S104 und S106) (vgl. Pektor).
Themen
In den Reiseaufzeichnungen aus Ober- und Niederösterreich wird Handkes problematisches Verhältnis zu Österreich besonders deutlich. Viele der Beschreibungen von Einheimischen lassen seine
ablehnend-distanzierte Haltung erkennen. In den Naturschilderungen hingegen, die auf Handkes Fußwegen entstanden, blitzt an manchen Stellen ein schönes Gefühl von "tiefem Österreich" auf.
Dabei registriert er jedoch mitunter etwas Dunkles, das bedrohlich mitschwingt: "Der Mittag, das Fliegensummen, das Tellerschichten, die Kinderstimmen, die besonnten Telegrafendrähte,
die hellen Bäuche der Mauersegler über einem, das Gras zittert unter meinem ruhigen Atem, die Wolken, die aus dem tiefen blauen Himmel sich bilden und sich rasch aus diesem Blau vergrößern,
verbreiten, sich strecken, als ob sie auf einen herunterfielen, näherkommend (das starke Gefühl, daß sie es auf einen abgesehen hätten, ein ewiges Näherkommen❬)❭ und dann haben sie sich wieder
aufgelöst" (ES. 17f.); "[h]inter dem vordergründigen Blau des Himmels erscheint plötzlich eine geheime
zweite, vollständige, bedrohliche Bewölkung, die unversehens durchbrechen wird" (ES. 18f.).
Handke stört die Ausrichtung auf den Fremdenverkehr auch in entlegeneren Gemeinden Ober- und Niederösterreichs: "Ö., das unwürdige Land / Ich begrüßte immer von weitem erleichtert den Kirchturm
des jeweiligen Ortes: so seelenlos kann es dort also doch nicht zugehen! (Aber dann steht an der Ortstafel: 'Feriendorf', oder 'Erholungsort' ...)" (ES. 70).
Die Menschen in den Dörfern beschreibt er teilweise als abgestumpft, gleichgültig und teilnahmslos: "Die Leute: nicht unfreundlich, aber unfähig zur Freundlichkeit (sie wissen gar nicht, was das ist)" (ES. 37).
Vermutlich in Rappottenstein besucht Handke ein Volksfest und registriert eine alkoholbedingte Änderung im Verhalten der Menschen: "So stumm, mundfaul sonst alle sind, jetzt hat man das Gefühl,
alle reden mit Übergeschwindigkeit" (ES. 71). In der ausgelassenen Stimmung nimmt Handke eine unterschwellige Aggression wahr: "Kurz vor dem Zuschlagenwollen reichen sie sich scheinheilig
versöhnlerisch die Hände" (ES. 72); "Zähnefletschend sitzen sie da in ihren Trachtengewändern" (ES. 73). Bereits zu Beginn seiner Reise notiert er: "Wo fast nur die Toten unter der Erde
Würde hatten" (ES. 11), und als würdelos nimmt er auch die Volksfestbesucher wahr; dieser Eindruck ändert sich erst, als er sie, durch die Zeltwand von ihnen getrennt, als unbestimmte
Silhouetten erlebt: "Der Bürgermeister aus Belgien, der die Dankrede an die freundlichen Menschen von Ö. im Plastikzelt hielt: das nächtliche Zelt von ❬außen❭, die Menschen gewannen als
plötzliche Schatten eine Würde, die sie sonst nicht mehr hatten und die leicht angeduselte Humanität eines belgischen Bürgermeisters gegen die als Menschen auftretenden Ödeme Österreichs!!" (ES. 74f.).
Manche von Handkes Schilderungen weisen einen beinahe bernhardesken Gestus auf: "Als der schwachsinnig aussehende Mann, selig auf dem Schiff nach Wien (!), den Mund öffnet, um an der Zigarette
zu ziehen, hat sich eine Blase vor seinem Mund gebildet vor Seligkeit / Sie trinken extra Flaschenwein zur Feier der Fahrt nach Wien" (ES. 79f.).
In einzelnen Notizen registriert Handke das traumatische Fortwirken des Krieges bzw. eine von einem diffusen 'Stolz' bestimmte Nachkriegsmentalität: "Herr S., der, nach dem Krieg, den fraternisierenden Mädchen die Haare scheren wollte / Mit Generalen etc. zu 20 nach Kriegsende in einer Almhütte / Meine stolze Machtlosigkeit!"
(ES. 11); "[e]in Mann tritt vor das Haus in die Leere, steht kurz da und geht wieder in die Leere zurück (Krieg als Lebenssinn)"
(ES. 20). Auf dem Schiff nach Wien verspürt Handke eine "Sehnsucht, daß Juden in diesem Land wären!"
(ES. 80). Die Begegnung mit seinem Bruder Hans in Wien wird nur am Rande erwähnt,
wie überhaupt Handkes Aufenthalt in der Großstadt kaum Spuren im Notizbuch hinterlassen hat. Er fühlt sich dort nicht 'am Platz', was sich auf sein Selbstgefühl auswirke, wie er schreibt:
"In Wien weiß ich nicht mehr, wie ich heiße, was ich getan habe, wer ich bin: völlige Verlorenheit […]" (ES. 86f.).
Im letzten Teil des Notizbuchs ist ein Aufenthalt in Salzburg und Tamsweg dokumentiert. Handke trifft Gerhard Roth und reflektiert nachträglich, wie er sich in der Gegenwart des
Schriftstellerkollegen fühlte (ES. 96 und 97f.).
Vermutlich verbringt Handke mit dem Verleger Wolfgang Schaffler und dessen Frau Gudrun einige Tage in den Bergen, wovon die Einträge auf den letzten Seiten des Notizbuchs zeugen.
Lektüren
NB 007 enthält keine Lektürenotizen, auch Kunstwerke rezipiert Handke kaum. Ausführlicher äußert er sich lediglich über den Kefermarkter Flügelaltar und – direkt im Anschluss daran – über Gegenstände,
die er in einem Heimatmuseum gesehen hat (ES. 21-25).
Schreibprojekte
Obwohl NB 007 dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet ist, sind darin keine Entwürfe zu Figuren oder Schauplätzen der Langsamen Heimkehr-Tetralogie (1979-1981)
enthalten – diese ist später aus dem Schreibvorhaben "Ins tiefe Österreich" entstanden. Handkes Besuch bei seinem Bruder Hans in Wien könnte jedoch "im Kontext des Stücks Über die Dörfer stehen [...],
des letzten, tatsächlich in Österreich spielenden Teils der Langsamen Heimkehr, in dem die Hauptfigur Gregor auch ihren Bruder trifft" (Pektor).
In den ersten Journalband Das Gewicht der Welt (1977) nahm Handke keine Einträge aus dem vorliegenden Notizbuch auf – "die beiden Monate Juli und August 1976 wurden dort ausgelassen (DGW 206-207)" (Pektor) –,
einzelne Notizen daraus erschienen erst in seinem zweiten Journal Die Geschichte des Bleistifts (1982), wie zum Beispiel die Notizen zum Kefermarkter Altar (DGB 6f.).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält lediglich vier Zeichnungen: Frakturschriftzeichen, die Handke vom Aushang eines Turnvereins abzeichnet (Z01/NB 007, ES. 14),
zwei Reihen von Steinmetzzeichen, die er im Glas- und Steinmuseum in Gmünd gesehen haben dürfte (Z02/NB 007, ES. 46),
die grob schematische Darstellung einer "Furt im Fluß" (Z03/NB 007, ES. 53) sowie einen "Barockgiebel" des Stifts Zwettl (Z04/NB 007, ES. 62).
Literaturverzeichnis
DGB = Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg/Wien: Residenz 1982.
DGW = Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977). Salzburg: Residenz 1977.
Pektor = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 96 Seiten, 05.07.1976 bis 21.07.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/282. Online abgerufen: 26.9.2023.
angebracht ist.