Das erste Drittel der Aufzeichnungen in Notizbuch 08.05.1976-13.06.1976 (NB 005) entstand während
einer Reise in die USA, die Peter Handke wahrscheinlich auf Einladung der University of Southern
California gemeinsam mit seiner Tochter unternahm. Von 8. bis 16. Mai waren sie in Los Angeles,
nach einem kurzen Aufenthalt in New York reisten sie am 19. Mai zurück nach Paris. Viele der in
den USA festgehaltenen Eindrücke, etwa von der Besichtigung eines universitären "Erdbebeninstituts", flossen
später in die Erzählung Langsame Heimkehr (1979) ein; sie ging aus dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich"
hervor, dem das Notizbuch zugeordnet ist. Nach seiner Rückkehr aus den USA hielt sich Handke bis Ende Mai in
Paris auf und flog für einige Tage nach Cannes, um die dortigen Filmfestspiele zu besuchen. Anfang Juni reiste
er über Frankfurt am Main nach Österreich, wo er sich in Salzburg, Tamsweg, Graz und Brunnsee aufhielt.
Einführender Kommentar
Material
Das fadengeheftete Notizbuch in brauner Lederoptik (13,5 x 8,2 cm) befindet sich im Original am
Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv
der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Die 125 karierten Seiten sind von 1 bis 121 paginiert, wobei die
Zahlen 95 und 109 jeweils drei Mal vergeben wurden (95, 95a, 95b sowie 109, 109a, 109b). Die letzte Seite wurde
herausgerissen, die Vorderseite des schmalen Blattfragments versah Handke aber noch mit Notizen (ES. 131), ohne
es zu paginieren. Das vordere Vorsatz umfasst wie das hintere jeweils drei Seiten ohne Paginierung. Auf der ersten
Vorsatzseite notierte Handke die Namen zweier Hotels – Hotel Ambassador und Hotel Château Marmont (in letzterem
wohnte er während seines Aufenthalts in Los Angeles). Darunter vermerkte er seine Pariser Adresse am Boulevard de
Montmorency und den Titel "Ins tiefe Österreich" (ES. 2). Auf der zweiten Seite listete er die Aufzeichnungsorte
der Notizen mit Angabe der Reisedaten: "U.S. (L.A., New York) 8.5.–19.5.1976 […] (Cannes, Frankfurt, Salzburg,
Tamsweg, Graz, Brunnsee)" (ES. 3) und notierte sich die Adresse der Bilingualen Montessori Schule in Paris (ES. 3);
die dritte Seite ist leer. Weitere Adressen von französischen Privatschulen auf dem hinteren Vorsatz dokumentieren
Handkes Suche nach einer neuen Schule für seine Tochter Amina. Am hinteren Vorsatz findet man neben diversen
Lektürezitaten (ES. 133) zudem Namen und Adressen im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Los Angeles, etwa
des Restaurants Ma Maison oder des American Film Institute. Dem Notizbuch beigelegt ist ein eh. beschriebener
Datumszettel ("Mai – Juni 1976").
Aufenthaltsorte
Am Ende des Vorgängernotizbuchs (NB 004) ist unter dem Datum des 8. Mai ein Hinweis auf den Aufbruch zum Flughafen
vermerkt, "um nach L.A. zu fliegen" (NB 004, ES. 93). Die Aufzeichnungen in NB 005 knüpfen unmittelbar
hier an; rund ein Drittel der Einträge entstand während der elftägigen Reise in die USA, auf der Handke von seiner Tochter
Amina begleitet wurde. Wahrscheinlich gab eine Einladung der University of Southern California Anlass zur Reise, Handke nahm
dort jedenfalls an einer Veranstaltung teil: "In a question and answer session held on May 12, 1976 during the University of
Southern California German Semester, Handke discussed the origin of metaphors in his writing". (Barry 1983, S. 206, Anm. 25).
In einer Postkarte an Alfred Kolleritsch vom 17. Mai schreibt Handke, dass er und Amina "seit gestern" in New York seien
(Handke / Kolleritsch 2008, S. 99); dem Vermerk mit den Reisedaten auf dem vorderen Vorsatzblatt zufolge flogen die beiden
am 19. Mai von dort zurück nach Europa. Fotoaufnahmen der Reise befinden sich in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich
am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA SPH/LW/S110/164-184) (vgl. Pektor).
Mit Ausnahme der Zeichnung eines Blattes, die mit dem Datum des 12. Mai versehen ist (ES. 19), sind die Notizen bis zu diesem
Zeitpunkt undatiert; erst nach seiner Rückkehr nach Europa versieht Handke die Einträge wieder mit Datumsangaben (vom 19. Mai
bis zum 13. Juni). Er unternimmt in dieser Zeit zwei weitere Reisen: Ende Mai, spätestens ab dem 26., befindet er sich in
Südfrankreich (vgl. ES. 68), vermutlich in Cannes, wo der Film Im Lauf der Zeit seines Freundes Wim Wenders für die Goldene
Palme nominiert war. Am 30. Mai dürfte Handke per Flugzeug zurück nach Paris gereist sein (vgl. ES. 80: "Der Himmel im Flugzeug
über den letzten Wolkensträhnen traumblau"). Die Erwähnung einer weiteren Flugreise auf Editionsseite 97: "Ich hörte am Dialekt,
daß Österreicher mit mir fliegen würden") und ein Treffen mit Siegfried Unseld (vgl. ES. 101) lassen den Schluss zu, dass Handke
am 3. Juni nach Frankfurt am Main flog; einen Tag später kam er nach Österreich. Am 5. Juni war er in Tamsweg (möglicherweise
am Standlhof bei Gudrun und Wolfgang Schaffler) und besuchte die Wallfahrtskirche St. Leonhard (ES. 103f.). Wann genau er die
auf dem Vorsatz vermerkten Reisestationen Salzburg, Graz und Brunnsee besuchte, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Die letzten
Einträge im Notizbuch dürften wieder in Paris entstanden sein.
Themen
In den Aufzeichnungen im ersten Drittel des Notizbuchs hält Handke Eindrücke von seinem Aufenthalt in Los Angeles fest und
führt die minutiöse Selbst- und Fremdbeobachtung fort, die er bereits in den Vorgängernotizbüchern praktiziert hatte, dazu
kommen "Gegenüberstellungen von Amerika und Europa" (Pektor). Handke interessierte sich für Sprechweisen, Gesten und
Attitüden der Menschen (ES. 17, 33f., 35), registrierte kleine Szenen aus dem Alltag und stellte in New York Vergleiche
zwischen West- und Ostküste an (ES. 42). Zurück in Europa, drehten sich viele der Notizen um die "Voraussetzungen
für das Schreiben" sowie "um die Ziele seiner schriftstellerischen Arbeit" (Pektor). So greift Handke etwa auf den Begriff des
"Mythos" zurück, wenn er sein Schreiben thematisiert: "Immer wieder das Bedürfnis, als Schriftsteller Mythen zu erfinden,
zu schaffen, die mit den abendländischen Mythen gar nichts mehr zu tun haben. Wir brauchen neue Mythen, unschuldige: mit
denen wir etwas anfangen können (keine Mythenspiele mehr wie bei Joyce und Beckett)" ES. 109).
Lektüren
Neben wenigen Notizen im Zusammenhang mit Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofstiege und zwei Stellen, die Handke aus
einem Gespräch mit Martin Heidegger zitiert, das nach dem Tod des Philosophen unter dem Titel Nur noch ein Gott kann uns
retten im Spiegel erschien, ist in NB 005 Handkes Lektüre der Blüthenstaub-Fragmente von Novalis dokumentiert, aus denen
er zahlreiche Stellen in sein Notizbuch überträgt. Es enthält zudem ein Zitat aus dem Aufsatz Das entflohene Glück. Eine
Deutung der Nostalgie von Arnold Gehlen, der im Mai 1976 in der Zeitschrift Merkur erschien.
Schreibprojekte
Auf dem vorderen Vorsatz ist der Titel "Ins tiefe Österreich" vermerkt (ES. 2); im Gegensatz zu den ersten beiden Notizbüchern,
die Handke durch die Nennung dieses Titels dem gleichnamigen Schreibprojekt zuordnet, lässt sich hier
mit Blick auf die Tetralogie Langsame Heimkehr (1979-1981), die Ende der 1970er-Jahre aus dem Schreibprojekt
resultieren sollte, durchaus werkgenetisch Relevantes erkennen: Mit Valentin Sorger tritt in NB 005 erstmals
jene Figur auf, die später zum Protagonisten der gleichnamigen Erzählung wird (ES. 25, 34f., 51):
"Handke muss sich zu dieser Zeit bereits so intensiv mit seinem Romanprojekt beschäftigt haben,
dass er den Namen seines Helden kannte" (Pektor). Zahlreiche der im Notizbuch festgehaltenen Eindrücke
seines Aufenthalts in Los Angeles – vor allem jene bei der Besichtigung eines "Erdbebeninstituts" – "verarbeitete
er in seiner Beschreibung von Sorgers Universitätscampus in Langsame Heimkehr (LH, S. 130ff.)" (Pektor). Im
Zusammenhang mit der Veranstaltung, die Handke am 12. Mai 1976 an der University of Southern California besuchte,
erwähnt Thomas F. Barry ein Band mit der Aufzeichnung der Diskussion (Barry 1983, hier S. 206, Anm. 25). Handke
dürfte sie noch in den USA gesehen haben; in einer Notiz schrieb er anscheinend eigene Erfahrungen in die dritte
Person um und übertrug seine Perspektive auf die Figur Valentin Sorger: "V.S. sah eine Stunde lang ein Video-Tape,
wo er Frage und Antwort stand, und danach – er hatte sich aufmerksam beobachtet – dachte er, daß er von jetzt an keinen
Grund mehr hätte, sich seiner selbst zu schämen, daß die Strenge und ruhige Anmut, mit der er da über eine Stunde lang
öffentlich reagiert hatte, ihm auch ein Beispiel für all seine geheimeren Lebensäußerungen und auch seine Innerlichkeiten
sein würden: daß er auch für sich so sein könnte, wie er sich da dargestellt hatte" (ES. 34f.).
Handke wählte einige der Notizen für den Abdruck im Journal Das Gewicht der Welt aus und überarbeitete sie teilweise,
bevor sie im Journalband publiziert wurden. Die abgedruckten Aufzeichnungen "umfassen dort insgesamt 25 Seiten
(DGW, S. 161-186)." (Pektor).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält rund 40 Zeichnungen, einige davon stammen wahrscheinlich von Amina Handke.
Literaturverzeichnis
Barry 1983 = Barry, Thomas F.: In Search of Lost Texts: Memory and the Existential Quest in Peter Handke´s "Die Hornissen". In: Seminar 19 (1983), H. 3, S. 194-214.
Handke / Kolleritsch 2008 = Handke, Peter / Kolleritsch, Alfred: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2008.
Pektor = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 125 Seiten, 08.05.1976 bis 13.06.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/278. Online abgerufen: 30.03.2023.
Z22/NB 005: Zwei Dinosaurier, mittelgroße Zeichnung (Kugelschreiber: schwarz), Urheber*in nicht identifiziert, ES. 118
Z23/NB 005: Stilisierte Armhaltungen, kleine eh. Zeichnung (Kugelschreiber: blau), mit korrespondierender Notiz, ES. 119
Z24/NB 005: Hieroglyphen, kleine eh. Zeichnung (Kugelschreiber: blau), ES. 121
Eingeklebtes Material:
M01/NB 005: Sticker mit Kindern um einen Baum, mittelgroßer, schräg auf dem Kopf stehender rechteckiger Sticker mit aufgedrucktem Bild auf dem Material (schwarz), ES. 2
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
B01/NB 005: Datumszettel, kleine Beilage, rechteckiger Papierstreifen, Vorderseite: mit eh. Schrift auf dem Material (Kugelschreiber: blau); Rückseite: mit Zugangsnummer des Archivs (Bleistift), ES. 138
Es gelang mir, den schwarzen Ober
anzulächeln, ohne daß es eine
Gunst oder eine Gastgebärde wurde
(und er merkte das) Wieviel fröhlicher das "Happy birth- day"-Lied der schwarzen Ober war
als das der Mini-Kleid-Mädchen
in KalifornienCalifornia : sie hatten ein Vergnügen
an der Lächerlichkeit (jene) feuchte Wäsche im Aufzug eines
Hochhauses Fledermausgeschrei mitten
in der Nacht in N.Y. CityNew York City
Das Brausen der Stadt wie
im Leerlauf, wenn keine
Autos mehr fahren
Es gelang mir, den schwarzen Ober
anzulächeln, ohne daß es eine
Gunst oder eine Gastgebärde wurde
(und er merkte das)
Wieviel fröhlicher das "Happy birthday"-Lied der schwarzen Ober war
als das der Mini-Kleid-Mädchen
in KalifornienCalifornia : sie hatten ein Vergnügen
an der Lächerlichkeit (jene)
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Zeichnungen
❬a❭Z11/NB 005: Wirbelsturm; kleine eh. Zeichnung (Kugelschreiber: blau, rot), mit Beschriftung.
Es gelang mir, den schwarzen Ober
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day"-Lied der schwarzen Ober war
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HochhausesFledermausgeschrei mitten
in der Nacht in N.Y. CityDas Brausen der Stadt wie
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Es gelang mir, den schwarzen Ober
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Es gelang mir, den schwarzen Ober
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Handke, Peter: Notizbuch 08.05.1976-13.06.1976 (NB 005). Hg. von
Anna Estermann und Katharina Pektor. In:
Ders.: Notizbücher. Digitale Edition. Hg. von Katharina Pektor, Ulrich von Bülow und Bernhard Fetz. Deutsches Literaturarchiv Marbach und Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Release
14.06.2024.
Seite 42.
URL: https://edition.onb.ac.at/fedora/objects/o:hnb.nb.197605-197606/methods/sdef:TEI/get?mode=p_42. Online abgerufen: 08.02.2025.
Transkription und Übersetzung fremdsprachiger oder stenographierter Textstellen
Ioannis Fykias (Altgriechisch), Ana Grigalashvili (Georgisch), Angelika Kolesnikow (Russisch), Anna Montané Forasté (Spanisch), Helmut Moysich (Italienisch, Französisch), Martin Springinklee (Steno), Dominik Srienc (Slowenisch) und Dorothea Weber (Latein).
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4.0)
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