Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil

Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Klagenfurt: Drava-Verlag 2015, S. 77-79
2/3/1. Gleichschaltung.

Die Perspektive, die sich aus dem Emporkommen des Nationalsozialismus ergibt, plant Musil 1933–1936 auszubauen. »Hypomanie (Nationalsozialismus)« notiert er 1936 im »Zusammenhang mit ›größter Idee‹« [II/2/16]. Zu Diotima-Aussprüchen wie »Man kann nicht ohne Begeisterung auskommen« merkt er 1933/34 an: »Dazu braucht es aber Gleichschaltung« [II/1/35 ]. Auf diese Weise werden in den Notizen Formulierungen und Prägungen des bereits gedruckten Romans um ein Schlagwort aus der deutschen Tagespolitik erweitert, »Gewährenlassen ist heute so wichtig wie Gleichschalten« [II/1/36 ]. In einer Notiz von 1936 sieht Musil für das Schlusskapitel Diotima/Ulrich die »Liquidation des Problems der schönsten Ideen« in Verbindung mit »Gleichschaltung« im »Hintergrund von ›Seinesgleichen‹« vor: »Es müßte also Ulrich über Gleichschaltung sprechen« [II/5/7]. In anderen Überlegungen wird die Übereinstimmung von »Kriegstreiben damals und jetzt« (1914 und 1933/34) als »aktuell« bezeichnet, »für Arnheim persönlich zu reservieren« [II/1/32 ]. ›Gleichschaltung‹ − die Monopolisierung ökonomischer und politischer Macht − müsse im letzten Teil des Romans als zwingende Folge der Bedingungen des kapitalistischen Gesellschaftssystems sichtbar gemacht werden. Zwei Vorgänge werden in Musils Überlegungen in Übereinstimmung gebracht: die Demontage des Parlamentarismus im Deutschen Reich, dessen Umwandlung in den nationalsozialistischen Führerstaat von Februar 1933 an und die universelle Kriegsbegeisterung von 1914. Das MW (= ›Machen Wir‹) des Wilhelminischen Deutschland, schon im Essay-Entwurf von Anfang 1918 als kriegstreibend geortet, setzt Musil in einer Notiz von 1933 in Beziehung zu »heutiges Deutschland« [II/2/14]. In der Notiz wird Gleichschaltung zur zentralen Einteilungskategorie für den Aufbau der weiteren Romanhandlung erklärt: »Gleich schaltung gegen Liberalismus. Die beiden gehören zusammen und führen von Mitte zu Ende«. Auf einem Blatt von Juni 1932 trägt Musil 1933 nach: »jetzt übergeordnet: Gleichschaltung« [II/8/73 ]; er markiert diesen Zusatz kräftig mit einem Blaustift. Zu ›Gleichschaltung‹ bzw. ›gleichschalten‹ enthält der Nachlass 93 Belege aus den Jahren 1933–36. Den Begriff nimmt Musil zuerst für das Essay-Projekt Bedenken eines Langsamen (1933) auf. Von dort findet er Eingang in die Aphorismenproduktion, die unter dem Stichwort ›Germ‹ = Germany in Heft 34 (bis 1936) unter dem Eindruck des in Deutschland zur Macht gekommenen Nationalsozialismus einsetzt. »Gleichschaltung ist eine Erfindung des Mittelstands« [III/5/69–70]. Das Wort ›Gleichschaltung‹ geht in Tarnformen auch in Entwurfstexte der Schreibphase 1933/34 ein: Ulrich spricht von »Gleichgerichtetheit « [I/4/18 ]. Die zweite Tarnform ist »Eingeistigkeit« [I/8/11 ], von Stumm von Bordwehr strapaziert. Die totalitären Massenbewegungen zum Sturz der Weimarer Republik liefern dem Studienmaterial Entsprechungen zur Kriegshysterie von 1914: »Das Volk will ein aktiv gutes Gewissen (feste Geisteshaltung). Erster Versuch war der Krieg. Zweiter KP und Nationalsozialismus« [I/I/77]. Die Veränderung in der Einschätzung der Gefährlichkeit des Nationalsozialismus, die sich 1932 allgemein vollzieht, ist aus Musils Notizen zu erkennen. In einer Anmerkung von 1931 wird ihm einmal sogar Berechtigung zugestanden: „Nationalsozialismus ist die berechtigte Reaktion gegen pseudomarxistisches revolutionäres Schwätzen”. [I/5/143] Es geht darum, „Ulrich vor Verwechslung [zu] schützen”. Musil nimmt die Interpretation des Faschismus und Sozialismus für den Roman anhand von Kategorien vor, die er in den 1920er Jahren entwickelt hat. Dabei passt er seine Denkfiguren den politischen Abläufen an, umgekehrt die Wirklichkeit (= Nationalsozialismus) dem Roman. Mit seiner Denk- und Schreibanordnung glaubt Musil eine Voraussicht der Dinge zu gewinnen. „Eigentlich ist die Begeisterung Deutschlands für den Nationalsozialismus ein glänzender Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung, daß dem Menschen nichts so wichtig ist wie eine feste Geisteshaltung […] Der Krieg war der erste Versuch […] Lindner, Schmeißer usw. Hybris des Mannes, der ein Zentrum hat, 'gestrafft ist'! [II/3/161 ] Die Zielsetzung, Ulrich vor Verwechslung mit pseudorevolutionärem Schwätzertum zu schützen, die Ausstattung von Figuren wie Lindner oder Schmeißer mit einer hybriden festen Geisteshaltung treffen im Für/In-Widerspruch zusammen: 'für etwas sein' und 'in etwas sein'. Dem 'Für' entspricht der „Irrtum des Etwas Tun Wollens” [II/3/161 ], das gesellschaftspolitische Engagement, aus dem "Für kommt alle Politik" [II/1/27]. Das 'In' − "Etwas tun ohne zu wissen wie, warum" [I/1/13] − spaltet sich in Handlungen aus innerer Motiviertheit im Sinne von "höchstes Glück" [II/8/58 ] bei Ulrich-Agathe und in Trieb, Massenhysterie, ziellosen Geschichtsverlauf aus dem Wunsch, "Spuren hinterlassen, sich einprägen wollen"”. [VII/12/7] Musil plant das pseudo-altruistische 'Für' als Irrtum zu entlarven, das mystisch-verzückte 'In' führe zu "Gleichgültigkeit des Weltgeschehens", [II/3/161 ] zu gesellschaftlicher Abstinenz. Vom gesellschaftlichen Bereich auf die Gefühlspsychologie übertragen, erfährt der Begriff Gleichschaltung eine Neudefinition: Er soll er in Ulrichs Tagebuch seine Anwendung finden, wo von „Gleichschaltungsarbeit des Gefühls” die Rede wäre, dass „auch der Trieb die ganze Person zu einer Handlung zusammenfasse”. [II/3/64 ] Bei der Vereinigung von Gefühlen zu einer Handlung bestehe ein Konnex zwischen Gesellschaft und Einzelnem, das entspreche der Verbindung zwischen anderem Zustand und sozialer Frage, zwei zentralen Kategorien in Notizen dieser Zeit. Von 1935 ab betreibt Musil eine subtile Metaphorisierung des politischen Umsturzes in Deutschland für die Darstellung gefühlspsychologischer Zusammenhänge: „Ulrichs Tagebuch-Eintragung über Suggestion: Jeder Affekt geht […] den direktesten Weg. Will untreu sein. Todwünschen. So ist Nationalsozialismus“ [II/3/166 ].


Zitiervorschlag
Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Klagenfurt: Drava-Verlag 2015, S. 77-79, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-fanta_krieg_2015/methods/sdef:TEI/get