(Liegt in I 8)434. Variante von Liebe deinen 48. Nächsten ... Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte Die Sonne scheint mit einunddemselben Gnadenblick auf Gerechte und Ungerechte; aus irgendeinem Grund wäre es Ulrich begreiflicher vorgekommen, wenn sie es mit zweien getan hätte: nacheinander, zuerst auf die Gerechten und dann auf die Ungerechten oder umgekehrt. "Nacheinander ist der Mensch doch auch lebendig und tot, Kind und Erwachsener, er straft und verzeiht so; ja diese Fähigkeit, Widersprechendes bloß nacheinander tun zu können, ließe sich geradezu verwenden, um das Wesen des Persönlichen zu definieren, denn überpersönliche Wesen, wie die Menschheit oder ein Volk oder eine Dorfbewohnerschaft, vermögen ihre Widersprüche nicht nur nacheinander zu begehn, sondern auch nebeneinander und durcheinander. Je höher ein Wesen auf der Leiter der Fähigkeiten stünde, desto tiefer stünde es also auf der Leiter der Moral? Jedenfalls: auf einen Tiger kann man sich verlassen, auf die Menschheit nicht ..!" So sagte Ulrich. Wäre seine Freundschaft mit Stumm in Blüte gestanden, wie fruchtbar hätten solche Gespräche sein können! Mit Agathe endeten sie immer in einer Bitte, ihre Überflüssigkeit zu entschuldigen, und führten zu neuer vergeblicher Auflehnung. "Es hat keinen Sinn, so zu sprechen" gab er zu und fing von vorne an. "Denn es gibt viele Fragen," lehrte er "die keinen Sinn haben, und sie sollten immer im Verdacht stehen, wichtig zu sein. Es gibt Fragen von der Art: warum habe ich zwei Ohren, aber nur eine Zunge? oder: weshalb ist der Mensch nur einfach und nicht sechseckig symmetrisch? Sie kommen manchmal geradeswegs aus der Kinderstube oder dem dem Irrenhaus, aber manchmal werdenerlangen sie nach längeremspäter auch wissenschaftliche Ehrbarkeit." Anders, und doch auch im Grunde gleich, verhält es sich mit der Frage: Warum stirbt der Mensch? Schon in den Schullehrbüchern der Logik steht es als das Muster eines Schlusses: "Alle Menschen sind sterblich. Lajus ist ein Mensch. Also ist Lajus sterblich." Man kann aber auch eine naturwissenschaftliche Antwort geben, und alle solche Antworten lassen eine solche Frage in einem äußerst vernünftigen Zustand zurück: "Jedoch das unvernünftige Anstarren dieser Frage, behauptete Ulrich, eine unverständige, ja völlig schamlose Art von Nichtbegreifenwollen der Natur, sei allein schon beinahe Moral, Philosophie und Dichtung! Agathe, die aus Natürlichkeit Bequeme, Duldsame, Gedankenkunststücken Abholde, erwiderte: "Die Natur hat keine Moral!"
(Liegt in I 8)434. Variante von Liebe deinen 48. Nächsten ... Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte Die Sonne scheint mit einunddemselben Gnadenblick auf Gerechte und Ungerechte; aus irgendeinem Grund wäre es Ulrich begreiflicher vorgekommen, wenn sie es mit zweien getan hätte: nacheinander, zuerst auf die Gerechten und dann auf die Ungerechten oder umgekehrt. "Nacheinander ist der Mensch doch auch lebendig und tot, Kind und Erwachsener, er straft und verzeiht so; ja diese Fähigkeit, Widersprechendes bloß nacheinander tun zu können, ließe sich geradezu verwenden, um das Wesen des Persönlichen zu definieren, denn überpersönliche Wesen, wie die Menschheit oder ein Volk oder eine Dorfbewohnerschaft, vermögen ihre Widersprüche nicht nur nacheinander zu begehn, sondern auch nebeneinander und durcheinander. Je höher ein Wesen auf der Leiter der Fähigkeiten stünde, desto tiefer stünde es also auf der Leiter der Moral? Jedenfalls: auf einen Tiger kann man sich verlassen, auf die Menschheit nicht ..!" So sagte Ulrich. Wäre seine Freundschaft mit Stumm in Blüte gestanden, wie fruchtbar hätten solche Gespräche sein können! Mit Agathe endeten sie immer in einer Bitte, ihre Überflüssigkeit zu entschuldigen, und führten zu neuer vergeblicher Auflehnung. "Es hat keinen Sinn, so zu sprechen" gab er zu und fing von vorne an. "Denn es gibt viele Fragen," lehrte er "die keinen Sinn haben, und sie sollten immer im Verdacht stehen, wichtig zu sein. Es gibt Fragen von der Art: warum habe ich zwei Ohren, aber nur eine Zunge? oder: weshalb ist der Mensch nur einfach und nicht sechseckig symmetrisch? Sie kommen manchmal geradeswegs aus der Kinderstube oder dem dem Irrenhaus, aber manchmal werdenerlangen sie nach längeremspäter auch wissenschaftliche Ehrbarkeit." Anders, und doch auch im Grunde gleich, verhält es sich mit der Frage: Warum stirbt der Mensch? Schon in den Schullehrbüchern der Logik steht es als das Muster eines Schlusses: "Alle Menschen sind sterblich. Lajus ist ein Mensch. Also ist Lajus sterblich." Man kann aber auch eine naturwissenschaftliche Antwort geben, und alle solche Antworten lassen eine solche Frage in einem äußerst vernünftigen Zustand zurück: "Jedoch das unvernünftige Anstarren dieser Frage, behauptete Ulrich, eine unverständige, ja völlig schamlose Art von Nichtbegreifenwollen der Natur, sei allein schon beinahe Moral, Philosophie und Dichtung! Agathe, die aus Natürlichkeit Bequeme, Duldsame, Gedankenkunststücken Abholde, erwiderte: "Die Natur hat keine Moral!"
Signatur: Cod. Ser. n. 15068
29 Blatt, 67 Seiten, 4 Konvolute
Die Mappe enthält Materialien zur Fortsetzung des ›Mann ohne Eigenschaften‹ nach der Teilveröffentlichung des Zweiten Buchs von 1932. Musil konzentrierte diese Fortsetzung in einer Entwurfsfolge mit der ›Sigle H‹ = ›Handschrift‹ (Fortsetzungshandschrift, Zweite Fassung, H 3 = Mappe I/7). Das daraus stammende Konvolut ›H 401-435‹ ist zusammen mit weiteren ersten Entwürfen von 1933 in die Mappe VII/9 gelangt. Eine Neufassung des Manuskripts (H 425-445) von 1934 aber bildet den Schwerpunkt des vorliegenden ›alten blauen Faszikels‹, in den auch das aktuelle Kapitelverzeichnis der Romanfortführung eingelegt wurde. Dazu kommen drei weitere unfertige Kapitelentwürfe von 1933/1934 aus älteren Kapitelprojekten zur Parallelaktions- und Rahmenerzählung, noch in keine endgültige Kapitelsukzession gereiht. Teils liefern die Entwürfe Vorstufen der Druckfahnenkapitel von Ende 1937, teils bleiben sie außerhalb des später angestrebten Erzählkontinuums.
Robert Musil, Altes blaues Faszikel (a. bl. Fa.) : Mappe I/8, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15068-01-08/methods/sdef:TEI/get?mode=p_33
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