Ulrich sagte: "Die Natur hat zwei Moralen!" Agathe sagte: "Es ist mir gleich, wie viele sie hat. Das ist kein Problem. Du willst mich doch bloß beschwätzen und ärgern!" "Aber es ist eins!" erwiderte Ulrich. "Denn da wir doch sicher das gut nennen, was uns gefällt und was wir vorziehen – das ist nicht Moral, aber es ist ihr Anfang und Ende! – müßte da nicht mit der Zeit das Böse aussterben, sowie die Schlangen und Krankheiten mehr oder minder ausgerottet werden und der Urwald gestorben ist? Warum erhält es sich dann und gedeiht prächtig?" "Das geht mich nichts an!" erklärte ihm Agathe und verteidigte damit ihre Absicht, das Gespräch nicht ernst zu nehmen, wenn es auf diese Weise geführt werde. Aber Ulrich erwiderte: "Nein, was dich angeht, istWir brauchen eben das Böse. Und was dich angeht, ist noch .. absurder und tiefer! Denn muß es nicht etwas, das schlechter ist als das andere, schon deshalb geben, weil wir nicht wüßten, wohin mit uns, wenn eine unserer Empfindungen so schön wäre wie die andere oder gar jede unserer Handlungen besser als ihre Vorgängerinnen?!" Agathe blickte auf, denn das war Ernst. Und so geschah es jetzt oft; Ssie waren in Unsicherheit über den richtigen Fortgang ihrer abenteuerlichen Pläne,und wichen einer Aussprache aus, weil sie nicht wußten, wie beginnen, aber plötzlich waren sie für einen Teil mitten darin. Ulrich erhielt damals Briefe von Professor Schwung, dem Altersfeind seines verstorbenen Vaters, in denen er bei dem Haupt des verehrten Toten beschworen wurde, dafür zu wirken, daß größere Strenge in die Welt einziehe, und er erhielt Briefe von Professor Hagauer, seinem erbitterten Schwager, in denen er selbst und seine Schwester mit Strenge angeklagtverdächtigt wurden, daß sie sich eines tief zweifelhaften Verhaltens schuldig machten. Er hatte diese Briefe zuerst ausweichend beantwortet, dann gar nicht mehr; schließlich verlangte Agathe von ihm sogar, daß er sie verbrenne, ohne sie zu öffnen. Sie begründete es damit, daß es unmöglich sei, solche Briefe zu lesen, und das war in dem Zustand, worin sie sich befanden, die Wahrheit. Aber sie ungelesen zu verbrennen und nicht einmal hinzuhören auf das, worüber andere klagten: wie kam es, daß ihr Gewissen davon nicht berührt wurde, obwohl es im übrigen damals so empfindlich war?! Sie begannen damals zu begreifen, welche zweideutige Rolle die anderen Menschen in ihren Empfindungen spielten. Sie wußten, daß sie nicht mit der Allgemeinheit übereinstimmten; in der tausendfältigen Betriebsamkeit, die Tag und Nacht erfüllt, wäre nicht eine einzige Tätigkeit zu finden gewesen, an der sie mit ganzem Herzen hätten teilnehmen mögen, und wessen sie sich selbst unterfingen, dem konnte nichts so sicher wie Geringschätzung
Ulrich sagte: "Die Natur hat zwei Moralen!" Agathe sagte: "Es ist mir gleich, wie viele sie hat. Das ist kein Problem. Du willst mich doch bloß beschwätzen und ärgern!" "Aber es ist eins!" erwiderte Ulrich. "Denn da wir doch sicher das gut nennen, was uns gefällt und was wir vorziehen – das ist nicht Moral, aber es ist ihr Anfang und Ende! – müßte da nicht mit der Zeit das Böse aussterben, sowie die Schlangen und Krankheiten mehr oder minder ausgerottet werden und der Urwald gestorben ist? Warum erhält es sich dann und gedeiht prächtig?" "Das geht mich nichts an!" erklärte ihm Agathe und verteidigte damit ihre Absicht, das Gespräch nicht ernst zu nehmen, wenn es auf diese Weise geführt werde. Aber Ulrich erwiderte: "Nein, was dich angeht, istWir brauchen eben das Böse. Und was dich angeht, ist noch .. absurder und tiefer! Denn muß es nicht etwas, das schlechter ist als das andere, schon deshalb geben, weil wir nicht wüßten, wohin mit uns, wenn eine unserer Empfindungen so schön wäre wie die andere oder gar jede unserer Handlungen besser als ihre Vorgängerinnen?!" Agathe blickte auf, denn das war Ernst. Und so geschah es jetzt oft; Ssie waren in Unsicherheit über den richtigen Fortgang ihrer abenteuerlichen Pläne,und wichen einer Aussprache aus, weil sie nicht wußten, wie beginnen, aber plötzlich waren sie für einen Teil mitten darin. Ulrich erhielt damals Briefe von Professor Schwung, dem Altersfeind seines verstorbenen Vaters, in denen er bei dem Haupt des verehrten Toten beschworen wurde, dafür zu wirken, daß größere Strenge in die Welt einziehe, und er erhielt Briefe von Professor Hagauer, seinem erbitterten Schwager, in denen er selbst und seine Schwester mit Strenge angeklagtverdächtigt wurden, daß sie sich eines tief zweifelhaften Verhaltens schuldig machten. Er hatte diese Briefe zuerst ausweichend beantwortet, dann gar nicht mehr; schließlich verlangte Agathe von ihm sogar, daß er sie verbrenne, ohne sie zu öffnen. Sie begründete es damit, daß es unmöglich sei, solche Briefe zu lesen, und das war in dem Zustand, worin sie sich befanden, die Wahrheit. Aber sie ungelesen zu verbrennen und nicht einmal hinzuhören auf das, worüber andere klagten: wie kam es, daß ihr Gewissen davon nicht berührt wurde, obwohl es im übrigen damals so empfindlich war?! Sie begannen damals zu begreifen, welche zweideutige Rolle die anderen Menschen in ihren Empfindungen spielten. Sie wußten, daß sie nicht mit der Allgemeinheit übereinstimmten; in der tausendfältigen Betriebsamkeit, die Tag und Nacht erfüllt, wäre nicht eine einzige Tätigkeit zu finden gewesen, an der sie mit ganzem Herzen hätten teilnehmen mögen, und wessen sie sich selbst unterfingen, dem konnte nichts so sicher wie Geringschätzung
Signatur: Cod. Ser. n. 15068
29 Blatt, 67 Seiten, 4 Konvolute
Die Mappe enthält Materialien zur Fortsetzung des ›Mann ohne Eigenschaften‹ nach der Teilveröffentlichung des Zweiten Buchs von 1932. Musil konzentrierte diese Fortsetzung in einer Entwurfsfolge mit der ›Sigle H‹ = ›Handschrift‹ (Fortsetzungshandschrift, Zweite Fassung, H 3 = Mappe I/7). Das daraus stammende Konvolut ›H 401-435‹ ist zusammen mit weiteren ersten Entwürfen von 1933 in die Mappe VII/9 gelangt. Eine Neufassung des Manuskripts (H 425-445) von 1934 aber bildet den Schwerpunkt des vorliegenden ›alten blauen Faszikels‹, in den auch das aktuelle Kapitelverzeichnis der Romanfortführung eingelegt wurde. Dazu kommen drei weitere unfertige Kapitelentwürfe von 1933/1934 aus älteren Kapitelprojekten zur Parallelaktions- und Rahmenerzählung, noch in keine endgültige Kapitelsukzession gereiht. Teils liefern die Entwürfe Vorstufen der Druckfahnenkapitel von Ende 1937, teils bleiben sie außerhalb des später angestrebten Erzählkontinuums.
Robert Musil, Altes blaues Faszikel (a. bl. Fa.) : Mappe I/8, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15068-01-08/methods/sdef:TEI/get?mode=p_34
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