Und das hat verschiedene Folgen. So die, daß die Menschen sich teils für "Brüder" sindhalten, teils für "Fremdstämmlinge", ohne daß einer diese Grenze zu bestimmen wüßte, denn das, was man Nation und Rasse heißt, sind Ergebnisse und keine Ursachen. Der Nationalismus näherte sich damals bereits seiner ersten blutigen roten Blüte. Eine andere Folge, nicht minder schwerwiegendeeinflußreiche, wenn sie auch nicht so offen zu Tage liegt, ist die, daß Herr Wichtig oder Herr WichtBeliebig nicht mehr weiß, wo er seine Ursache hat; er fühlt sich infolgedessen wie einen abgeschnittenen Faden, den die fleißige Nadel des Lebens haltlos aus= und einzieht, weil man vergessen hat, ihm einen Knopf zu machen. Eine dritte, jetzt erst aufdämmernde, zum Beispiel die, daß man noch nicht nachgerechnet hat, ob und inwieweit es Herrn Ebenso=Beliebig doppelt und mehrfach gibt; im Bereich des erblich Möglichen liegt das durchaus, bloß weiß man nicht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß es einem wirklich widerfahren könnte, sich selbst zu begegnen, aber ein dumpfer Druck davon, daß es bei der heutigen Entwicklung Natur des Menschen nicht ganz ausgeschlossen sein kann, liegt sozusagen in der Luft.
Dies allein sind schon drei verwickelte Folgen, und es gibt deren mehr
Und sicher wäre es nicht einmal das Schlimmste. Graf Leinsdorf, der einen Augenblick mit Ulrich sprach, erging sich über die adelige Einrichtung der Kammerherrn. "Sechzehn adelige Ahnen muß ein Kämmerer haben, und darüber halten sich die Leute auf, daß das eine Arroganz sein soll: aber ich bitt Sie, was tun denn die Leute selber? Nachmachen tuns uns mit ihren Rassentheorien " erläuterte er " und übertreiben das gleich in einer ganz und gar unvornehmen Weise. Meinethalben können wir alle vonvom gleichen Adam abstammen, ein Leinsdorf bleibt trotzdem ein Leinsdorf, denn das ist lang nicht so sehr eine Sache des Bluts wie eine der Bildung!" Seine Erlaucht war gereizt durch das Eindringen völkischer Elemente in die Parallelaktion, das man aus verschiedenen Rücksichten bis zu einem gewissen Grad dulden mußte. Der Nationalismus war damals bereits nahe daran, seine erste blutige Blüte, zu treiben, aber kein Mensch wußte es, denn er sah trotz der nahen Erfüllung noch nicht fürchterlich, sondern erst lächerlich aus; sein geistiges Antlitz bestand in der Hauptsache aus Büchern, die mit der fleißigen Belesenheit eines Gelehrten und der vollen Wahllosigkeit des ungeschulten Denkens von Verfassern zusammengestellt wurden, die irgendwo am Land als Volksschullehrer oder kleine Zollbeamte lebten
Und das hat verschiedene Folgen. So die, daß die Menschen sich teils für "Brüder" sindhalten, teils für "Fremdstämmlinge", ohne daß einer diese Grenze zu bestimmen wüßte, denn das, was man Nation und Rasse heißt, sind Ergebnisse und keine Ursachen. Der Nationalismus näherte sich damals bereits seiner ersten blutigen roten Blüte. Eine andere Folge, nicht minder schwerwiegendeeinflußreiche, wenn sie auch nicht so offen zu Tage liegt, ist die, daß Herr Wichtig oder Herr WichtBeliebig nicht mehr weiß, wo er seine Ursache hat; er fühlt sich infolgedessen wie einen abgeschnittenen Faden, den die fleißige Nadel des Lebens haltlos aus= und einzieht, weil man vergessen hat, ihm einen Knopf zu machen. Eine dritte, jetzt erst aufdämmernde, zum Beispiel die, daß man noch nicht nachgerechnet hat, ob und inwieweit es Herrn Ebenso=Beliebig doppelt und mehrfach gibt; im Bereich des erblich Möglichen liegt das durchaus, bloß weiß man nicht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß es einem wirklich widerfahren könnte, sich selbst zu begegnen, aber ein dumpfer Druck davon, daß es bei der heutigen Entwicklung Natur des Menschen nicht ganz ausgeschlossen sein kann, liegt sozusagen in der Luft.
Dies allein sind schon drei verwickelte Folgen, und es gibt deren mehr
Und sicher wäre es nicht einmal das Schlimmste. Graf Leinsdorf, der einen Augenblick mit Ulrich sprach, erging sich über die adelige Einrichtung der Kammerherrn. "Sechzehn adelige Ahnen muß ein Kämmerer haben, und darüber halten sich die Leute auf, daß das eine Arroganz sein soll: aber ich bitt Sie, was tun denn die Leute selber? Nachmachen tuns uns mit ihren Rassentheorien " erläuterte er " und übertreiben das gleich in einer ganz und gar unvornehmen Weise. Meinethalben können wir alle vonvom gleichen Adam abstammen, ein Leinsdorf bleibt trotzdem ein Leinsdorf, denn das ist lang nicht so sehr eine Sache des Bluts wie eine der Bildung!" Seine Erlaucht war gereizt durch das Eindringen völkischer Elemente in die Parallelaktion, das man aus verschiedenen Rücksichten bis zu einem gewissen Grad dulden mußte. Der Nationalismus war damals bereits nahe daran, seine erste blutige Blüte, zu treiben, aber kein Mensch wußte es, denn er sah trotz der nahen Erfüllung noch nicht fürchterlich, sondern erst lächerlich aus; sein geistiges Antlitz bestand in der Hauptsache aus Büchern, die mit der fleißigen Belesenheit eines Gelehrten und der vollen Wahllosigkeit des ungeschulten Denkens von Verfassern zusammengestellt wurden, die irgendwo am Land als Volksschullehrer oder kleine Zollbeamte lebten
Signatur: Cod. Ser. n. 15110
2 Konvolute (davon 1 mit Umschlag); 35 Blätter; 77 beschriebene Seiten; 6 Zeitungsausschnitte
Die Bezeichnung »Mappe Schreibtisch zuletzt (Diotima, Arnheim)« bezieht sich auf Musils Arbeitssituation am Mann ohne Eigenschaften im Sommer 1932. Offenbar hatte er die Manuskripte in ihr belassen, als er im September 1932 seinen Arbeitsurlaub in dem Ostseebadeort Brunshaupten abbrach, um nach Berlin zurück zu kehren. Der Schreibprozess, den der Mappeninhalt im Ausschnitt dokumentiert, nämlich die Niederschrift von Band 2/1 des Mann ohne Eigenschaften, war zu diesem Zeitpunkt praktisch abgeschlossen. Vorstufen finden sich in Form von Entwürfen aus den zwanziger Jahren, kapitelübergreifenden Planungsnotizen und Schmierblättern zu verschiedenen Kapiteln, die primär nicht dem Ulrich-Agathe-Komplex angehören; so auch das Exzerpt »Diotima-Lazarsfeld«, Musil hatte bereits im Frühsommer 1931 ein Buch der Sexualforscherin Sophie Lazarsfeld für Kapitel 2/17 des Romans exzerpiert. Die Materialien reichen inhaltlich über das Ende von Band 2/1 hinaus und umfassen auch Vorstufen zum Nationen-Kapitel, das 1932 noch einen Bestandteil der Sitzungs-Kapitel (Kapitel 2/35-38) bildete.
Robert Musil, Schreibtisch zuletzt D-Ah (Diotima, Arnheim) : Mappe VII/14, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15110-07-14/methods/sdef:TEI/get?mode=p_3
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