Ein Psychoanalytiker zb. kommt kaum irgendwo in Verlegenheit, aber eine Frau, die das Eisbein schwingt, kann nicht ohne auf ihredieser Lebenslinie zu einem Kind kommen. In solchen Fällen, u. sie sind die in der Kultur wichtigeren, kann man nicht alles für das eine tun u. denken; aber man tut u denkt es dann zu seinen Ehren. Das klassische Beispiel dafür haben die fahrenden Ritter der Minne aufgestellt, die über jeden gleichen, der ihnen begegnete, mit Eiferwie die tollen Hunde hergefallen sind, zu ehren eines Zustands in ihrem Herzen, der so weich u. duftig war wie tropfendes Kirchenwachs. Dessen ist der Mensch also durchaus fähig, u. man muß hinzufügen, er ist
dessen auch bedürftig. Was er tut, ist sehr mannigfaltig u. von allerlei Umständen abhängig; aber darüber muß etwas von Schimmer, Sinn, Traum u. Einheit sein, sonst ist er damit nicht glücklich. Dieses Glück, einen Horizont von Glück, der aus einem Punkt erleuchtet ist, den man gar nicht immer im Bewußtsein zu haben braucht, besorgt das Wissen, daß man für etwas Größeres lebt, als man selbst ist, in etwas Größerem aber zu seinen Ehren, was alles das gleiche ist. Das Gefühl, einem Verein anzugehören, istleistet dabei außerdem das gleiche wie das Gefühl einer Zeit oder einer Nation anzugehören; die Beruhigung, moralisch zu leben, ist die gleicheebensoviel wie die, auskömmlich Geld zu verdienen; der Glaube an einen Boxer desgleichen wie der an Homer.3. Die Ideale haben also eine wichtige lebenstechnische Vorrichtung, deren Zweck klar zu sehen ist, aber es ist keineswegs klar, wie sie dazu kommen, ihn zu erfüllen. Wird diese Angelegenheit nun dadurch verworrener oder lichter, wenndaß man sich erinnert, wie undurchführbar unsere Ideale sind, wie rasch sie ins Absurde führen, u. wie nötig wir es haben, ihnen nicht allzuviel Gehör zu schenken? Ein beliebiges Beispiel: Ein Journalist interviewt einen Richter über die Frage des Strafvollzugs u. der Richter stellt die Behauptung auf: In einem Gefängnis soll Reue herrschen! Davon,Oob das richtig ist, kann man ebensogut absehen wie man davon absehen muß, daß in einer Fr umstrittenen Frage die wenigsten so aufrichtig ihre Meinung sagen werden; es genügt, daß es eine mögliche Auffassung ist, eine ernste Auffassung u. eine, die eine große u. ausgebaute IdeologieWeltansicht, eine der ausgebautesten Ideologien zum Hintergrund hat. Man kann diesen Satz also mit gutem Gewissen aussprechen u. anhören, aber wörtlich ernst u. mit seinem vollen Gewicht nehmen darf man ihn trotzdem nicht, denn dann könnte die Vorstellung von wichtigen Gefängnissen sich alsbald nicht eher genug tun, als sie nicht wieder bei den alten bildlichen Darstellungen des Höllenfeuers angelangt
Ein Psychoanalytiker zb. kommt kaum irgendwo in Verlegenheit, aber eine Frau, die das Eisbein schwingt, kann nicht ohne auf ihredieser Lebenslinie zu einem Kind kommen. In solchen Fällen, u. sie sind die in der Kultur wichtigeren, kann man nicht alles für das eine tun u. denken; aber man tut u denkt es dann zu seinen Ehren. Das klassische Beispiel dafür haben die fahrenden Ritter der Minne aufgestellt, die über jeden gleichen, der ihnen begegnete, mit Eiferwie die tollen Hunde hergefallen sind, zu ehren eines Zustands in ihrem Herzen, der so weich u. duftig war wie tropfendes Kirchenwachs. Dessen ist der Mensch also durchaus fähig, u. man muß hinzufügen, er ist
dessen auch bedürftig. Was er tut, ist sehr mannigfaltig u. von allerlei Umständen abhängig; aber darüber muß etwas von Schimmer, Sinn, Traum u. Einheit sein, sonst ist er damit nicht glücklich. Dieses Glück, einen Horizont von Glück, der aus einem Punkt erleuchtet ist, den man gar nicht immer im Bewußtsein zu haben braucht, besorgt das Wissen, daß man für etwas Größeres lebt, als man selbst ist, in etwas Größerem aber zu seinen Ehren, was alles das gleiche ist. Das Gefühl, einem Verein anzugehören, istleistet dabei außerdem das gleiche wie das Gefühl einer Zeit oder einer Nation anzugehören; die Beruhigung, moralisch zu leben, ist die gleicheebensoviel wie die, auskömmlich Geld zu verdienen; der Glaube an einen Boxer desgleichen wie der an Homer.3. Die Ideale haben also eine wichtige lebenstechnische Vorrichtung, deren Zweck klar zu sehen ist, aber es ist keineswegs klar, wie sie dazu kommen, ihn zu erfüllen. Wird diese Angelegenheit nun dadurch verworrener oder lichter, wenndaß man sich erinnert, wie undurchführbar unsere Ideale sind, wie rasch sie ins Absurde führen, u. wie nötig wir es haben, ihnen nicht allzuviel Gehör zu schenken? Ein beliebiges Beispiel: Ein Journalist interviewt einen Richter über die Frage des Strafvollzugs u. der Richter stellt die Behauptung auf: In einem Gefängnis soll Reue herrschen! Davon,Oob das richtig ist, kann man ebensogut absehen wie man davon absehen muß, daß in einer Fr umstrittenen Frage die wenigsten so aufrichtig ihre Meinung sagen werden; es genügt, daß es eine mögliche Auffassung ist, eine ernste Auffassung u. eine, die eine große u. ausgebaute IdeologieWeltansicht, eine der ausgebautesten Ideologien zum Hintergrund hat. Man kann diesen Satz also mit gutem Gewissen aussprechen u. anhören, aber wörtlich ernst u. mit seinem vollen Gewicht nehmen darf man ihn trotzdem nicht, denn dann könnte die Vorstellung von wichtigen Gefängnissen sich alsbald nicht eher genug tun, als sie nicht wieder bei den alten bildlichen Darstellungen des Höllenfeuers angelangt
Signatur: Cod. Ser. n. 15064
11 Blatt, 23 Seiten, 2 Konvolute
Die Mappenbezeichnung bezieht sich auf Pläne zur Fortsetzung des Romans, wie sie sich bis Anfang 1934 herauskristallisieren. Es finden sich Festlegungen von Anfang 1934 zur Verknüpfung des an Band 2/1 anschließenden Ulrich-Agathe-Komplexes mit den anderen Erzählsträngen sowie Studienblätter für einzelne Kapitelprojekte. Den Schwerpunkt bildet ein Kapitelentwurf mit dem Arbeitstitel „Warum ... sind ... wollen“ auf der Basis des Entwurfs „Für-In“ von 1928.
Robert Musil, Schlussblock : Mappe I/4, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15064-01-04/methods/sdef:TEI/get?mode=p_23
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