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Die Stadt B.

Feuermaul war in der Spinn- und Webstadt B. als der Sohn eines reichen Tuchkommissionärs geboren; aus irgendwelchen Gründen verdienten diese Zwischenhändler mehr als die Fabrikanten selbst, und die Feuermauls gehörten zu den reichsten Leuten, obgleich der alte Feuermaul damit zurückhielt.

Dieses B. war um das Jahr 1890 herum, wo der junge Feuermaul geboren wurde, eine sonderbare Stadt. Um eine alte, häßliche, auf einem Berg liegende Festung herum, der Kasematten, die von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient hatten und berüchtigt waren, lag ein alter, wenn auch längst vermauerter Stadtkern, von dem nicht allzu zeitgemäßen Geschäftsbetrieb wohlhabender Bürger erfüllt; um diesen Kern breiteten sich im Ring die Fabriksviertel, große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, aufgefädelt längs einiger gewundener, breiter, schlecht gehaltener Straßen und einem Gewirr von Nebengäßchen, hohe graue Kamine ragten als traurige Flaggenmaste darüber weg; und wo sich das ins Land verlor, begann unvermittelt schwarzbraune, fette, fruchtbare Erde, geduckte Dörfer, in einer Zeile die Landstraße begleitend und in den Farben des Regenbogens angestrichen, fremd reizvolles Bauernland, aus dem die Fabriken ihre Arbeiter, Männer und Frauen sogen, und weites Rübenland, das Großgrundbesitzern gehörte. Diese Stadt bildete die nördliche Spitze einer deutschen Sprachinsel und war eine von Deutschen kolonisierte Stadt, seit dem 13. Jahrhundert in die Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in den Schulen dieser Stadt lernen, daß hier der Türkenprediger Kapistran gegen die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher auch in Neapel noch geboren werden konnten; daß die Erbverbrüderung zwischen den Häusern Habsburg und Ungarn, die 1364 den Grund zur österreichisch-ungarischen Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen worden sei als hier; daß die Schweden im Dreißigjährigen Krieg diese tapfere Stadt einen ganzen Sommer lang belagert hatten, ohne sie erobern zu können, und noch weniger hatten das die Preußen im Siebenjährigen Krieg vermocht. Mit anderen Worten, es war eine gute kakanische Stadt, und man sah es ihr auch an.

Unter ihren zehn Klöstern waren manche Zeugen aus alter Zeit, am höchsten Punkt thronte ein Gefängnis; am zweithöchsten eine Bischofsresidenz, darunter hatten die Macht der Landstände und der Fleiß der Bürger manches Gebäude hinterlassen, das in der Sprache der Renaissance oder gar der Gotik dem Vorübereilenden ein Wort aus dem Grabe ins Ohr flüsterte. Merkwürdig, das wird ja anders werden; wenn dereinst unsere Stimmen von 1929 aus versenkten Grammophonplatten den im Jahre 2179 vorbeieilenden Menschen ins Ohr rufen werden, wie und namentlich was wir gesprochen haben, so werden die erschreckt zusammenzucken! Das optische Grammophon der Baukunst hatte trotz der aufgewandten Steinmassen diese Wirkung nicht erreicht. Wir haben uns niemals durch schöne alte Häuser abhalten lassen, sie zu benützen, so wie wir sind. Das hatte seine Ursache freilich auch darin, daß die alte Bausprache viel lebendiger erhalten geblieben ist als die alte Schriftsprache und Mundart, und wenn ein historisch unbefangener Mensch die gotische Jakobskirche sah mit ihrem Nadelturm oder vor den barocken Brunnen am Krautmarkt stand, so konnte er nur dadurch auf ihr Alter kommen, daß er eigens eines der neueren Häuser seiner Vaterstadt anblickte, in deren Schauseiten sich dem Fortschritt der Zeit entsprechend sowohl Gotik wie Barock wie Renaissance wie Romanik und Empire gemischt hatten. Unter den großen Städten Kakaniens hatte B. die zeitgemäßeste Architektur, ein reiches Bauwelsch, das die roten Türmchen, Dächerchen und schieferblauen Mansardendächer seiner Villen als Träger der Kultur in die Wälder hineinschob, die es auf einer Seite »umkränzten«. Es lag in der Gabel zweier Flüsse, aber einer sehr weiten, locker ansitzenden Gabel, und die Flüsse waren eigentlich nicht so recht Flüsse, sondern an manchen Stellen waren sie breite gemäßigte Bäche und an anderen wieder waren sie stehende Wasser, die dennoch insgeheim flossen. Auch die Landschaft war nicht einfach, sondern bestand aus drei Teilen. Auf der einen Seite eine weite sehnsüchtige sich eröffnende Ebene, die nach Wien führte und an manchen Abenden und Morgen von zarten Silber- und Orangefarben überschwebt war; auf der anderen buschiges, baumwimpeliges, treudeutsches Waldhügelland, von grellem Grün in fernes Blau führend; auf der dritten eine heroische, nazarenische Landschaft von großartiger Eintönigkeit mit Steinbrüchen, graugrünen, von Schafen beweideten Hügelkuppen und braunen, wie ein Violinton wegschwebenden Feldern. Im ganzen war das wohl ein Dreiviertelkreis von Hügeln und Bergen, Tafeln und Kulissen, zur Hälfte kahl, zur Hälfte bewaldet, aus dessen offener Seite, wenn nicht alles täuscht, die beiden vereinigten Flüsse hinausführten; aber man kann es nicht so genau sagen, denn in dieser ganz und gar kakanischen Landschaft gab es natürlich auch auf der Bergseite große Ebenen, auf der Kahlseite ein paar Wälder und inmitten der Waldidyllen schweigende Ackerbreiten. Man vermag auch nicht zu sagen, ob die Bewohner dieser Stadt ihre Stadt und deren Umgebung schön oder häßlich fanden; würde man gesagt haben, sie sei häßlich, so würden sie in dem ihnen eigenen singenden Tonfall geantwortet haben: aber gehn Sie, der rote Berg, und der gelbe Berg, und die schwarzen Felder, und der Kuhberg…! Und man muß zugeben, daß allein schon diese Namen sich landschaftlich hören lassen. Würde man aber gesagt haben, sie sei schön, so würden sie gelacht und erzählt haben, sie kämen eben aus der Schweiz oder vom Semmering und aus Wien zurück. Es war damit keinesweg eine Schönheit des Häßlichen ihrer Heimat gemeint; eher, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft geben konnten, so etwas wie die Unruhe, in die uns die Vorstellung der Todesruhe versetzt, oder das wohlige Herabsinken eines Zwielichts, in dem die Augen schmerzen, wenn man etwas ansieht.

Und gerade das gehörte zu den Vorbildlichkeiten Kakaniens, denn wie sich gezeigt hat, ist es nirgends in der Welt viel anders, oder, um es zeitgemäß auszudrücken, alles ist dem Menschen heute zugleich Unlust und Lust. Kakanien war eine großartige Mischung davon, und der Geburtsort des Dichters Feuermaul B. war in Kakanien einer der am vorbildlichsten gemischten Orte. Die Menschen, die es bewohnten, lebten von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von dem Verkauf von Tuchen und Garnen, von der Erzeugung und dem Handel mit allen Dingen, die Menschen brauchen, welche Tuche und Garne erzeugen oder verkaufen, einschließlich der Erzeugung und Behandlung von Rechtsstreitigkeiten, Krankheiten, Kenntnissen, Vergnügungen und dergleichen, was zu jeder größeren Stadt gehört. Alle diese Menschen hatten eine Eigenheit, die sich schwer ausdrücken läßt: es gab keinen bekannten Ort der Welt, ob es nun Kitzbühel, St. Moritz oder Tokio war, wo man nicht, wenn man selbst aus dieser Stadt stammte, einen Menschen oder eine Familie aus der Heimat antreffen konnte, die sich auf der gleichen Reise befanden; das hatte zur Folge, wenn man sich zu Hause wiedertraf, daß alle Menschen dieser Stadt ebensoviel davon an sich hatten, daß die Welt groß und weit ist, wie daß schließlich auch die Weltkugel nur einen winzigen Mittelpunkt hat.

Man könnte sagen, daß damit der Charakter dieser Stadt beschrieben sei, wenn in dieser Beschreibung nicht noch etwas fehlte, und man wird kaum irren, wenn man annimmt, daß es gerade der Charakter ist. Fleiß, Sparsamkeit, gute Konzerte, mit- telmäßiges Theater, Bälle, Einladungen und die Erzeugung von Wollen und Garnen machen noch sowenig einen Charakter aus, wie ein Nebeneinander gut gefüllter Säcke ein Orchester darstellt. Dazu gehören noch entweder der Kampf mit einer sich auflehnenden Arbeiterschaft oder der Kampf um den Weltmarkt oder der um die Staatsmacht, kurz, nicht nur das Verdienen nach Verdienst, sondern auch ein Stück Erbeuten. In Kakanien dagegen wurde wohl sehr viel Geld unrecht verdient, aber erbeutet durfte keines werden. Wenn in diesem Staate Verbrechen erlaubt gewesen wären, so würde man doch strenge darauf geachtet haben, daß sie nur von kaiserlich-königlich privilegierten Verbrechern ausgeübt werden. Und das gab allen solchen Städten das Aussehen eines großen Saals mit einer niedrigen Decke.

Der Staatscharakter Kakaniens war ein sanfter und gemäßigter. Ein Kranz von Pulvertürmen umgab jede größere Stadt, in denen die Armee ihre Schießvorräte aufbewahrte, groß genug, um bei einem Blitzschlag ein ganzes Stadtviertel in Trümmer zu legen; aber bei jedem Pulverturm war durch eine Schildwache und einen schwarzgelben Schlagbaum dafür vorgesorgt, daß die Bürger kein Unheil anrichteten. Die Polizei war mit Säbeln ausgestattet, die so lang waren wie die der Offiziere. In die neuen Stadtviertel hatte der Staat, schon ehe sie so weit ausgedehnt waren, weit vorausblickend, Militärspitäler, Monturdepots und Trainkasernen gelegt, deren riesige Rechtecke der städtischen Ordnung einen gewissen Halt gaben, und eine Beamtenarmee in langschössigen Uniformen amtierte in großen Amtskasernen oder früheren Klöstern. Man darf alles das nicht für Militarismus halten, dessen man Kakanien bezichtigt hat, es war nur Ordnung. Diese Ordnung, irgendwann, unter Franz I. oder Ferdinand I. planmäßig entstanden, aber inzwischen zu einer Landschaft und Natur geworden, gab der Franzisko-Josephinischen Ära ihr Gepräge. Ganz bestimmt hätten bei längerer Dauer auch noch die Geistlichen Säbel bekommen, da die Universitätsprofessoren doch schon welche hatten; aber man sah eben im Säbel nichts anderes als eine unentbehrliche geistige Waffe.

Trotzdem war dieser gemäßigte Staat der Schauplatz erbitterter Kämpfe. Bisher ist nur von den deutschen Bewohnern die Rede gewesen, aber es gab, wenn man von den Offizieren und Beamten absieht, beinahe ebensoviel Tschechen wie Deutsche in B. und außerdem war es die Hauptstadt einer Provinz, in der doppelt soviel Tschechen wie Deutsche lebten. Es ist nicht üblich, in einer Dichtung von solchen Fragen in Zahlen zu sprechen, denn wenn es überhaupt geschieht, daß man die Politik berührt, so spricht man nur von ihren Leidenschaften; allein, am Grund der Leidenschaften ruhen sehr oft Zahlen, und besonders bei Politikern. Und schließlich ist das dauernde Unvermögen der Deutschen und Tschechen, sich miteinander zu vertragen, zwar nicht mit den anderen großen Weltspannungen zu vergleichen gewesen, wohl aber hat es hauptsächlich dazu beigetragen, in Österreich jenen Krankheitszustand zu schaffen, der den Kriegspolitikern außerhalb und innerhalb Kakaniens Mut zu dem großen chirurgischen Eingriff machte, oder wenn man es so lieber hat, sie vor den ernsten Entschluß zu einem solchen stellte. Die geschilderte Stadt hatte also nicht nur die Ehre, der Geburtsort des friedliebenden Lyrikers Feuermaul zu sein, sondern man darf ihr auch nachrühmen, daß sie ein Herd des Weltkriegs war.

Nun ist über die Ursachen sowohl des Kriegs wie der Eintracht, die seither am gleichen Orte zwei Völker friedlich vereint, die sich ehedem gehaßt haben, schon soviel Kluges und Wohlbegründetes verbreitet worden, daß die größte poetische Gabe, Dinge zu erzählen, die niemals gewesen sind, neben dem gleichen Talent der Wirklichkeitsmenschen erblassen mußte. Trotzdem haben Menschen damals in Kakanien gelebt, die noch heute, in der seither verbesserten Welt, leben; ja sie machen nach wie vor ihre Geschäfte oder reiten ihre Steckenpferde; dazwischen aber haben sie Weltgeschichte gemacht, sind einem Weltgericht unterworfen worden, das ihre Nationen hob und senkte, und es bleibt eine ungemein fesselnde, ja sogar eine eminent moralische Frage, wie man eigentlich zu so etwas kommt. Man betrachte einen durchschnittlichen Jüngling, der in dieser Stadt die deutsche technische Hochschule besuchte, um dereinst Dampfmaschinen zu baun oder sein Vaterland mit Licht zu versorgen. Unterscheiden wir ihn vom Genie durch den Namen Biermaul. Biermaul hat in der Zeit, wo er noch nicht Student war, am Nachhauseweg von der Schule zwei Arten von Kämpfen kennengelernt: entweder gab es eine Schlacht der Realschule mit dem Gymnasium, in der bald die eine, bald die andere Partei siegte, oder eine Schlacht mit der tschechischen Straßenjugend, die immer zu einem Rückzug der höheren Bildung führte, den die höhere Intelligenz verschleierte und als geordneten Rückzug weniger beschämend machte. Sobald nun Biermaul über diese Jahre hinaus ist, sind die Kämpfe zwischen Realschule und Gymnasium vergessen, die anderen aber haben sich zu der Vorstellung verfestigt, daß der Tscheche etwas Pöbelhaftes an sich hat und der Deutsche die Kulturmacht ausüben müsse. Diese Vorstellung hat vorläufig noch gar nichts mit blonden Haaren oder blauen Edelaugen zu tun, wenn das weitere später auch hinzukommt; sie ist vorläufig nichts als die Feststellung der Tatsache, daß es viele tschechische Jungen gibt, die bloßfüßig und zerlumpt sind, roher sind, als die deutschen Jungen gern sein möchten, und ausgezeichnet mit Steinen werfen. Auch die Dienstmädchen sind meist Böhminnen, wie man das nennt, und alle kleinen Leute, die man da und dann zu kleinen Diensten braucht, sind Böhmen. Das sind so die Familieneindrücke Biermauls, mit denen er in die Politik eintritt. Seine Jugendfreunde heißen Navratil und Prschihoda, aber da ihre Väter deutsche Beamte sind und sie selbst kein Wort des Tschechischen verstehn, hält er sie mit Recht für ebenso deutsch wie sich.

Die Erklärung dafür ist sehr einfach. Geschichte, Kern, Reichtum, Mehrheit dieser Stadt und der ganze ihr eingelagerte Staatsapparat waren seit Geschlechtern deutsch. Jeden Morgen holten aber die Sirenen der Fabriken aus den Dörfern der Umgebung Scharen von tschechischen Arbeitern herein, und verstreuten sie zwar abends wieder über das Land, aber mit den Jahrzehnten blieben davon immer mehr in der Stadt zurück und machten von unten her das schon vorhandene slawische Kleinbürgertum kräftig nach oben wachsen. Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon ein gewisses Maß von Kultur, so entwickelte sich nun eine gewisse österreichische Kultur, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder tschechisch, noch deutsch, sondern ein bescheiden selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen. Man stand in Kakanien damals immer noch auf dem Standpunkt, daß es nicht gut sei, wenn die einfachen Leute zu viel lernen. Man legte auch nicht zu viel Wert darauf, daß es ihnen wirtschaftlich gut gehe. Steckt etwas Tüchtiges in einem Menschen, so ringt es sich schon durch, und Widerstände sind geeignet, einen Mann zu erziehen. Es war ein Stück altösterreichischer Überlieferung, den Menschen nur mit Bedacht das Vorwärtskommen zu erleichtern, wenn sie nicht schon aus Kreisen stammten, zu deren Rechten es gehörte. Es gab mehrere wohlhabende Männer in Kakanien und einige hohe Staatsbeamte, welche die Richtigkeit dieses Grundsatzes bewiesen; außerdem hatten es mehrere Söhne von Feldwebeln zu Oberstleutnants gebracht. Darum gab es in dieser Provinz zwar doppelt soviel Tschechen als Deutsche, dem aber nur auf der untersten Stufe die Zahl der Schulen entsprach; an höheren Bildungsanstalten hatten dagegen die Deutschen doppelt soviel und die Tschechen um die Hälfte zu wenig, als ihnen nach ihrer Zahl zugekommen wäre. Selbstverständlich wurden die meisten Familien, die es zu etwas brachten, auf diese Weise deutsch. Die Tschechen nennen das heute noch eine gewaltsame Germanisierung und leiten daraus das Recht ab, daß sie heute den Deutschen zufügen. Es war aber nur der Zusammenhang von Besitz und Bildung. Sie hätten ebensogut Sozialisten werden können; aber auf jenem von vorübergehenden Tatsachen und bleibenden Umständen ausgetretenen Weg, den man den der Geschichte nennt, wurden sie nationale Romantiker. Bekanntlich ist es eine große Erleichterung, wenn man sich ärgert, seinen Zorn an jemand auszulassen, der nichts dafür kann; weniger bekannt ist das ja von der Liebe, und dennoch läßt man gerade in der großen Liebe oft nur seine Liebe aus. Gerade darin besteht aber das, was man Romantik nennt. Wenn ein Romantiker sich nicht wohl fühlt, so verliebt er sich in das deutsche Mittelalter, die ägyptische Königszeit und andere Zeiten, die er nicht kennt, oder er gibt die Schuld seiner Frau, die ihn nervös macht. Er wird immer einen Punkt finden, den er nicht erreichen kann, und dorthin verlegt er die Schuld oder das Ziel. Die Anwendung auf nationale Liebe und Haß liegt auf der Hand.

Es kann also gar keine Rede davon sein, daß die Deutschen als Nation etwas wollten, ebensowenig wie die vernünftigen Tschechen heute, nach Umkehrung der Verhältnisse, den Deutschen etwas Übles wollen, obgleich sie es ihnen antun. Tatsache war es jedenfalls, daß die Tschechen damals ihre Forderungen aufstellten, und die Deutschen ihre Belange, und daß sie einander nicht nur mit allen Mitteln der Kabale, sondern auch mit Steinen und Knütteln bekämpften. Das Bedürfnis, erregt und eindeutig zu sein, ergreift gleich eine solche gewöhnlich ja versagte Gelegenheit. Eine solche nationale Leidenschaft nennt man Balkanisierung, und sie ist mit der Blutrache verwandt. Was aber Blutrache ist, erkennt man ausgezeichnet, wenn man sich vorstellt, daß man einen Mann, an dem man geschäftlich verdient, erdolchen müßte, weil ein Tunichtgut, mit dem man verwandt ist, von einem Tunichtgut, mit dem er verwandt ist, beleidigt worden ist. Das wäre ja zum Lachen, und so kommt Blutrache nur von dem Mangel an Geschäftsverbindungen, nationaler Geist aber ebenfalls. Den Mangel natürlicher Beziehungen vertreten augenblicklich Ideengespenster, von deren vampyrhaftem Herumfliegen in der heutigen Luft ja schon oftmals die Rede war.

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Die Stadt B.

Feuermaul war in der Spinn- und Webstadt B. als der Sohn eines reichen Tuchkommissionärs geboren; aus irgendwelchen Gründen verdienten diese Zwischenhändler mehr als die Fabrikanten selbst, und die Feuermauls gehörten zu den reichsten Leuten, obgleich der alte Feuermaul damit zurückhielt.

Dieses B. war um das Jahr 1890 herum, wo der junge Feuermaul geboren wurde, eine sonderbare Stadt. Um eine alte, häßliche, auf einem Berg liegende Festung herum, der Kasematten, die von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient hatten und berüchtigt waren, lag ein alter, wenn auch längst vermauerter Stadtkern, von dem nicht allzu zeitgemäßen Geschäftsbetrieb wohlhabender Bürger erfüllt; um diesen Kern breiteten sich im Ring die Fabriksviertel, große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, aufgefädelt längs einiger gewundener, breiter, schlecht gehaltener Straßen und einem Gewirr von Nebengäßchen, hohe graue Kamine ragten als traurige Flaggenmaste darüber weg; und wo sich das ins Land verlor, begann unvermittelt schwarzbraune, fette, fruchtbare Erde, geduckte Dörfer, in einer Zeile die Landstraße begleitend und in den Farben des Regenbogens angestrichen, fremd reizvolles Bauernland, aus dem die Fabriken ihre Arbeiter, Männer und Frauen sogen, und weites Rübenland, das Großgrundbesitzern gehörte. Diese Stadt bildete die nördliche Spitze einer deutschen Sprachinsel und war eine von Deutschen kolonisierte Stadt, seit dem 13. Jahrhundert in die Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in den Schulen dieser Stadt lernen, daß hier der Türkenprediger Kapistran gegen die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher auch in Neapel noch geboren werden konnten; daß die Erbverbrüderung zwischen den Häusern Habsburg und Ungarn, die 1364 den Grund zur österreichisch-ungarischen Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen worden sei als hier; daß die Schweden im Dreißigjährigen Krieg diese tapfere Stadt einen ganzen Sommer lang belagert hatten, ohne sie erobern zu können, und noch weniger hatten das die Preußen im Siebenjährigen Krieg vermocht. Mit anderen Worten, es war eine gute kakanische Stadt, und man sah es ihr auch an.

Unter ihren zehn Klöstern waren manche Zeugen aus alter Zeit, am höchsten Punkt thronte ein Gefängnis; am zweithöchsten eine Bischofsresidenz, darunter hatten die Macht der Landstände und der Fleiß der Bürger manches Gebäude hinterlassen, das in der Sprache der Renaissance oder gar der Gotik dem Vorübereilenden ein Wort aus dem Grabe ins Ohr flüsterte. Merkwürdig, das wird ja anders werden; wenn dereinst unsere Stimmen von 1929 aus versenkten Grammophonplatten den im Jahre 2179 vorbeieilenden Menschen ins Ohr rufen werden, wie und namentlich was wir gesprochen haben, so werden die erschreckt zusammenzucken! Das optische Grammophon der Baukunst hatte trotz der aufgewandten Steinmassen diese Wirkung nicht erreicht. Wir haben uns niemals durch schöne alte Häuser abhalten lassen, sie zu benützen, so wie wir sind. Das hatte seine Ursache freilich auch darin, daß die alte Bausprache viel lebendiger erhalten geblieben ist als die alte Schriftsprache und Mundart, und wenn ein historisch unbefangener Mensch die gotische Jakobskirche sah mit ihrem Nadelturm oder vor den barocken Brunnen am Krautmarkt stand, so konnte er nur dadurch auf ihr Alter kommen, daß er eigens eines der neueren Häuser seiner Vaterstadt anblickte, in deren Schauseiten sich dem Fortschritt der Zeit entsprechend sowohl Gotik wie Barock wie Renaissance wie Romanik und Empire gemischt hatten. Unter den großen Städten Kakaniens hatte B. die zeitgemäßeste Architektur, ein reiches Bauwelsch, das die roten Türmchen, Dächerchen und schieferblauen Mansardendächer seiner Villen als Träger der Kultur in die Wälder hineinschob, die es auf einer Seite »umkränzten«. Es lag in der Gabel zweier Flüsse, aber einer sehr weiten, locker ansitzenden Gabel, und die Flüsse waren eigentlich nicht so recht Flüsse, sondern an manchen Stellen waren sie breite gemäßigte Bäche und an anderen wieder waren sie stehende Wasser, die dennoch insgeheim flossen. Auch die Landschaft war nicht einfach, sondern bestand aus drei Teilen. Auf der einen Seite eine weite sehnsüchtige sich eröffnende Ebene, die nach Wien führte und an manchen Abenden und Morgen von zarten Silber- und Orangefarben überschwebt war; auf der anderen buschiges, baumwimpeliges, treudeutsches Waldhügelland, von grellem Grün in fernes Blau führend; auf der dritten eine heroische, nazarenische Landschaft von großartiger Eintönigkeit mit Steinbrüchen, graugrünen, von Schafen beweideten Hügelkuppen und braunen, wie ein Violinton wegschwebenden Feldern. Im ganzen war das wohl ein Dreiviertelkreis von Hügeln und Bergen, Tafeln und Kulissen, zur Hälfte kahl, zur Hälfte bewaldet, aus dessen offener Seite, wenn nicht alles täuscht, die beiden vereinigten Flüsse hinausführten; aber man kann es nicht so genau sagen, denn in dieser ganz und gar kakanischen Landschaft gab es natürlich auch auf der Bergseite große Ebenen, auf der Kahlseite ein paar Wälder und inmitten der Waldidyllen schweigende Ackerbreiten. Man vermag auch nicht zu sagen, ob die Bewohner dieser Stadt ihre Stadt und deren Umgebung schön oder häßlich fanden; würde man gesagt haben, sie sei häßlich, so würden sie in dem ihnen eigenen singenden Tonfall geantwortet haben: aber gehn Sie, der rote Berg, und der gelbe Berg, und die schwarzen Felder, und der Kuhberg…! Und man muß zugeben, daß allein schon diese Namen sich landschaftlich hören lassen. Würde man aber gesagt haben, sie sei schön, so würden sie gelacht und erzählt haben, sie kämen eben aus der Schweiz oder vom Semmering und aus Wien zurück. Es war damit keinesweg eine Schönheit des Häßlichen ihrer Heimat gemeint; eher, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft geben konnten, so etwas wie die Unruhe, in die uns die Vorstellung der Todesruhe versetzt, oder das wohlige Herabsinken eines Zwielichts, in dem die Augen schmerzen, wenn man etwas ansieht.

Und gerade das gehörte zu den Vorbildlichkeiten Kakaniens, denn wie sich gezeigt hat, ist es nirgends in der Welt viel anders, oder, um es zeitgemäß auszudrücken, alles ist dem Menschen heute zugleich Unlust und Lust. Kakanien war eine großartige Mischung davon, und der Geburtsort des Dichters Feuermaul B. war in Kakanien einer der am vorbildlichsten gemischten Orte. Die Menschen, die es bewohnten, lebten von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von dem Verkauf von Tuchen und Garnen, von der Erzeugung und dem Handel mit allen Dingen, die Menschen brauchen, welche Tuche und Garne erzeugen oder verkaufen, einschließlich der Erzeugung und Behandlung von Rechtsstreitigkeiten, Krankheiten, Kenntnissen, Vergnügungen und dergleichen, was zu jeder größeren Stadt gehört. Alle diese Menschen hatten eine Eigenheit, die sich schwer ausdrücken läßt: es gab keinen bekannten Ort der Welt, ob es nun Kitzbühel, St. Moritz oder Tokio war, wo man nicht, wenn man selbst aus dieser Stadt stammte, einen Menschen oder eine Familie aus der Heimat antreffen konnte, die sich auf der gleichen Reise befanden; das hatte zur Folge, wenn man sich zu Hause wiedertraf, daß alle Menschen dieser Stadt ebensoviel davon an sich hatten, daß die Welt groß und weit ist, wie daß schließlich auch die Weltkugel nur einen winzigen Mittelpunkt hat.

Man könnte sagen, daß damit der Charakter dieser Stadt beschrieben sei, wenn in dieser Beschreibung nicht noch etwas fehlte, und man wird kaum irren, wenn man annimmt, daß es gerade der Charakter ist. Fleiß, Sparsamkeit, gute Konzerte, mit- telmäßiges Theater, Bälle, Einladungen und die Erzeugung von Wollen und Garnen machen noch sowenig einen Charakter aus, wie ein Nebeneinander gut gefüllter Säcke ein Orchester darstellt. Dazu gehören noch entweder der Kampf mit einer sich auflehnenden Arbeiterschaft oder der Kampf um den Weltmarkt oder der um die Staatsmacht, kurz, nicht nur das Verdienen nach Verdienst, sondern auch ein Stück Erbeuten. In Kakanien dagegen wurde wohl sehr viel Geld unrecht verdient, aber erbeutet durfte keines werden. Wenn in diesem Staate Verbrechen erlaubt gewesen wären, so würde man doch strenge darauf geachtet haben, daß sie nur von kaiserlich-königlich privilegierten Verbrechern ausgeübt werden. Und das gab allen solchen Städten das Aussehen eines großen Saals mit einer niedrigen Decke.

Der Staatscharakter Kakaniens war ein sanfter und gemäßigter. Ein Kranz von Pulvertürmen umgab jede größere Stadt, in denen die Armee ihre Schießvorräte aufbewahrte, groß genug, um bei einem Blitzschlag ein ganzes Stadtviertel in Trümmer zu legen; aber bei jedem Pulverturm war durch eine Schildwache und einen schwarzgelben Schlagbaum dafür vorgesorgt, daß die Bürger kein Unheil anrichteten. Die Polizei war mit Säbeln ausgestattet, die so lang waren wie die der Offiziere. In die neuen Stadtviertel hatte der Staat, schon ehe sie so weit ausgedehnt waren, weit vorausblickend, Militärspitäler, Monturdepots und Trainkasernen gelegt, deren riesige Rechtecke der städtischen Ordnung einen gewissen Halt gaben, und eine Beamtenarmee in langschössigen Uniformen amtierte in großen Amtskasernen oder früheren Klöstern. Man darf alles das nicht für Militarismus halten, dessen man Kakanien bezichtigt hat, es war nur Ordnung. Diese Ordnung, irgendwann, unter Franz I. oder Ferdinand I. planmäßig entstanden, aber inzwischen zu einer Landschaft und Natur geworden, gab der Franzisko-Josephinischen Ära ihr Gepräge. Ganz bestimmt hätten bei längerer Dauer auch noch die Geistlichen Säbel bekommen, da die Universitätsprofessoren doch schon welche hatten; aber man sah eben im Säbel nichts anderes als eine unentbehrliche geistige Waffe.

Trotzdem war dieser gemäßigte Staat der Schauplatz erbitterter Kämpfe. Bisher ist nur von den deutschen Bewohnern die Rede gewesen, aber es gab, wenn man von den Offizieren und Beamten absieht, beinahe ebensoviel Tschechen wie Deutsche in B. und außerdem war es die Hauptstadt einer Provinz, in der doppelt soviel Tschechen wie Deutsche lebten. Es ist nicht üblich, in einer Dichtung von solchen Fragen in Zahlen zu sprechen, denn wenn es überhaupt geschieht, daß man die Politik berührt, so spricht man nur von ihren Leidenschaften; allein, am Grund der Leidenschaften ruhen sehr oft Zahlen, und besonders bei Politikern. Und schließlich ist das dauernde Unvermögen der Deutschen und Tschechen, sich miteinander zu vertragen, zwar nicht mit den anderen großen Weltspannungen zu vergleichen gewesen, wohl aber hat es hauptsächlich dazu beigetragen, in Österreich jenen Krankheitszustand zu schaffen, der den Kriegspolitikern außerhalb und innerhalb Kakaniens Mut zu dem großen chirurgischen Eingriff machte, oder wenn man es so lieber hat, sie vor den ernsten Entschluß zu einem solchen stellte. Die geschilderte Stadt hatte also nicht nur die Ehre, der Geburtsort des friedliebenden Lyrikers Feuermaul zu sein, sondern man darf ihr auch nachrühmen, daß sie ein Herd des Weltkriegs war.

Nun ist über die Ursachen sowohl des Kriegs wie der Eintracht, die seither am gleichen Orte zwei Völker friedlich vereint, die sich ehedem gehaßt haben, schon soviel Kluges und Wohlbegründetes verbreitet worden, daß die größte poetische Gabe, Dinge zu erzählen, die niemals gewesen sind, neben dem gleichen Talent der Wirklichkeitsmenschen erblassen mußte. Trotzdem haben Menschen damals in Kakanien gelebt, die noch heute, in der seither verbesserten Welt, leben; ja sie machen nach wie vor ihre Geschäfte oder reiten ihre Steckenpferde; dazwischen aber haben sie Weltgeschichte gemacht, sind einem Weltgericht unterworfen worden, das ihre Nationen hob und senkte, und es bleibt eine ungemein fesselnde, ja sogar eine eminent moralische Frage, wie man eigentlich zu so etwas kommt. Man betrachte einen durchschnittlichen Jüngling, der in dieser Stadt die deutsche technische Hochschule besuchte, um dereinst Dampfmaschinen zu baun oder sein Vaterland mit Licht zu versorgen. Unterscheiden wir ihn vom Genie durch den Namen Biermaul. Biermaul hat in der Zeit, wo er noch nicht Student war, am Nachhauseweg von der Schule zwei Arten von Kämpfen kennengelernt: entweder gab es eine Schlacht der Realschule mit dem Gymnasium, in der bald die eine, bald die andere Partei siegte, oder eine Schlacht mit der tschechischen Straßenjugend, die immer zu einem Rückzug der höheren Bildung führte, den die höhere Intelligenz verschleierte und als geordneten Rückzug weniger beschämend machte. Sobald nun Biermaul über diese Jahre hinaus ist, sind die Kämpfe zwischen Realschule und Gymnasium vergessen, die anderen aber haben sich zu der Vorstellung verfestigt, daß der Tscheche etwas Pöbelhaftes an sich hat und der Deutsche die Kulturmacht ausüben müsse. Diese Vorstellung hat vorläufig noch gar nichts mit blonden Haaren oder blauen Edelaugen zu tun, wenn das weitere später auch hinzukommt; sie ist vorläufig nichts als die Feststellung der Tatsache, daß es viele tschechische Jungen gibt, die bloßfüßig und zerlumpt sind, roher sind, als die deutschen Jungen gern sein möchten, und ausgezeichnet mit Steinen werfen. Auch die Dienstmädchen sind meist Böhminnen, wie man das nennt, und alle kleinen Leute, die man da und dann zu kleinen Diensten braucht, sind Böhmen. Das sind so die Familieneindrücke Biermauls, mit denen er in die Politik eintritt. Seine Jugendfreunde heißen Navratil und Prschihoda, aber da ihre Väter deutsche Beamte sind und sie selbst kein Wort des Tschechischen verstehn, hält er sie mit Recht für ebenso deutsch wie sich.

Die Erklärung dafür ist sehr einfach. Geschichte, Kern, Reichtum, Mehrheit dieser Stadt und der ganze ihr eingelagerte Staatsapparat waren seit Geschlechtern deutsch. Jeden Morgen holten aber die Sirenen der Fabriken aus den Dörfern der Umgebung Scharen von tschechischen Arbeitern herein, und verstreuten sie zwar abends wieder über das Land, aber mit den Jahrzehnten blieben davon immer mehr in der Stadt zurück und machten von unten her das schon vorhandene slawische Kleinbürgertum kräftig nach oben wachsen. Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon ein gewisses Maß von Kultur, so entwickelte sich nun eine gewisse österreichische Kultur, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder tschechisch, noch deutsch, sondern ein bescheiden selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen. Man stand in Kakanien damals immer noch auf dem Standpunkt, daß es nicht gut sei, wenn die einfachen Leute zu viel lernen. Man legte auch nicht zu viel Wert darauf, daß es ihnen wirtschaftlich gut gehe. Steckt etwas Tüchtiges in einem Menschen, so ringt es sich schon durch, und Widerstände sind geeignet, einen Mann zu erziehen. Es war ein Stück altösterreichischer Überlieferung, den Menschen nur mit Bedacht das Vorwärtskommen zu erleichtern, wenn sie nicht schon aus Kreisen stammten, zu deren Rechten es gehörte. Es gab mehrere wohlhabende Männer in Kakanien und einige hohe Staatsbeamte, welche die Richtigkeit dieses Grundsatzes bewiesen; außerdem hatten es mehrere Söhne von Feldwebeln zu Oberstleutnants gebracht. Darum gab es in dieser Provinz zwar doppelt soviel Tschechen als Deutsche, dem aber nur auf der untersten Stufe die Zahl der Schulen entsprach; an höheren Bildungsanstalten hatten dagegen die Deutschen doppelt soviel und die Tschechen um die Hälfte zu wenig, als ihnen nach ihrer Zahl zugekommen wäre. Selbstverständlich wurden die meisten Familien, die es zu etwas brachten, auf diese Weise deutsch. Die Tschechen nennen das heute noch eine gewaltsame Germanisierung und leiten daraus das Recht ab, daß sie heute den Deutschen zufügen. Es war aber nur der Zusammenhang von Besitz und Bildung. Sie hätten ebensogut Sozialisten werden können; aber auf jenem von vorübergehenden Tatsachen und bleibenden Umständen ausgetretenen Weg, den man den der Geschichte nennt, wurden sie nationale Romantiker. Bekanntlich ist es eine große Erleichterung, wenn man sich ärgert, seinen Zorn an jemand auszulassen, der nichts dafür kann; weniger bekannt ist das ja von der Liebe, und dennoch läßt man gerade in der großen Liebe oft nur seine Liebe aus. Gerade darin besteht aber das, was man Romantik nennt. Wenn ein Romantiker sich nicht wohl fühlt, so verliebt er sich in das deutsche Mittelalter, die ägyptische Königszeit und andere Zeiten, die er nicht kennt, oder er gibt die Schuld seiner Frau, die ihn nervös macht. Er wird immer einen Punkt finden, den er nicht erreichen kann, und dorthin verlegt er die Schuld oder das Ziel. Die Anwendung auf nationale Liebe und Haß liegt auf der Hand.

Es kann also gar keine Rede davon sein, daß die Deutschen als Nation etwas wollten, ebensowenig wie die vernünftigen Tschechen heute, nach Umkehrung der Verhältnisse, den Deutschen etwas Übles wollen, obgleich sie es ihnen antun. Tatsache war es jedenfalls, daß die Tschechen damals ihre Forderungen aufstellten, und die Deutschen ihre Belange, und daß sie einander nicht nur mit allen Mitteln der Kabale, sondern auch mit Steinen und Knütteln bekämpften. Das Bedürfnis, erregt und eindeutig zu sein, ergreift gleich eine solche gewöhnlich ja versagte Gelegenheit. Eine solche nationale Leidenschaft nennt man Balkanisierung, und sie ist mit der Blutrache verwandt. Was aber Blutrache ist, erkennt man ausgezeichnet, wenn man sich vorstellt, daß man einen Mann, an dem man geschäftlich verdient, erdolchen müßte, weil ein Tunichtgut, mit dem man verwandt ist, von einem Tunichtgut, mit dem er verwandt ist, beleidigt worden ist. Das wäre ja zum Lachen, und so kommt Blutrache nur von dem Mangel an Geschäftsverbindungen, nationaler Geist aber ebenfalls. Den Mangel natürlicher Beziehungen vertreten augenblicklich Ideengespenster, von deren vampyrhaftem Herumfliegen in der heutigen Luft ja schon oftmals die Rede war.

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Zitiervorschlag

Robert Musil, Die Stadt B., in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.moe5/methods/sdef:TEI/get?mode=ch_moe5_kg_6
Druckausgabe: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Die Vorstufen 1919 - 1928, Gesamtausgabe Band 6, hrsg. v. Walter Fanta, Salzburg: Jung und Jung 2018, S. 547-558.

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