Notizbuch 05.03.1976-15.03.1976 (NB 002) markiert eine Zäsur in Peter Handkes Arbeitsmethode und Werkgeschichte. Während alle davor entstandenen Notizbücher als Materialsammlung für jeweils ein Werk geführt wurden, versucht er hier erstmals, Wahrnehmungen, Gedanken oder Erinnerungen spontan und ohne vorgefasste inhaltliche und formale Ausrichtung aufzuschreiben. Dabei werden seine Notizen mitunter sehr persönlich. Sie erzählen vom Alleinsein, vom Zusammenleben mit seinem Kind und von der sich zunehmend verschlechternden Beziehung zu seiner Frau. Handke betitelt diese Aufzeichnungen "Eine Woche im März" und unterstreicht damit programmatisch die nunmehrige Zweckfreiheit des Notierens. Mit seinen datierten Einträgen ist dieses Notizbuch zudem das erste, das Handke konsequent als Journal führt.
Material
Das dunkelbraune, spiralgebundene Notizbuch der Marke Clairefontaine (Format: 11,8 x 7,4 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Im Beschriftungsfeld am Umschlag hat Peter Handke den Entstehungszeitraum der Aufzeichnungen notiert: "März 1976". Das Notizbuch umfasst 94 karierte Seiten, die Handke, entgegen seiner späteren Gewohnheit, noch nicht paginiert hat.
Aufenthaltsorte
Ein Großteil der Einträge entstand wahrscheinlich in Paris. Am vorderen Vorsatz des Notizbuchs vermerkte Handke als seine Kontaktadresse 77, Boulevard de Montmorency im 16. Arrondissement, Paris Auteuil, wo er von Dezember 1973 bis Juni 1976 mit seiner Tochter Amina und zeitweise auch mit seiner Frau Libgart Schwarz wohnte (vgl. Kepplinger-Prinz). Sonst werden in den Aufzeichnungen kaum Orte erwähnt, einmal Nanterre (ES. 36) und der nahe der Wohnung gelegene Vergnügungspark Jardin d’Acclimatation (ES. 72) sowie eine französische Landwirtschaftsmesse (ES. 90), die er besucht hat. Andere Ortsangaben sind vermutlich an Erinnerungen geknüpft, z.B. an Klagenfurt (ES. 9), Kronberg im Taunus (ES. 24), die Hamburger U-Bahn (ES. 49), Chartres (ES. 57), den Wallersberg in der Nähe seines Geburtsorts Griffen (ES. 87) oder Zell am See (ES. 94).
Themen
NB 002 markiert den Beginn einer neuen Schreibphase Peter Handkes, die in ihrer werkgeschichtlichen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Seine Aufzeichnungen sind von nun an nicht mehr bloß auf konkrete Schreibvorhaben ausgerichtet, sondern dienen einem "täglichen, zweckfreien Mitschreiben[] von Bewusstseinseindrücken" (Pektor a). Das möglichst unvermittelte Aufschreiben von Wahrnehmungen erhob Handke zur eigenständigen Schreibmethode. Im Vorwort zu seinem Journalband Das Gewicht der Welt, in dem 1977 auch die meisten der in Notizbuch NB 002 enthaltenen Aufzeichnungen veröffentlicht wurden, heißt es, je länger und intensiver er die "spontane Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmungen" betrieben habe, desto stärker habe er ein "Erlebnis der Befreiung von gegebenen literarischen Formen" gehabt und zugleich das Erlebnis der Freiheit in einer ihm "bis dahin unbekannten literarischen Möglichkeit" (DGW, S. 5). Der Unmittelbarkeit des Notierens kommt dabei ein wichtiger Stellenwert zu: "Ich übte mich nun darin, auf alles, was mir zustieß, sofort mit Sprache zu reagieren, und merkte, wie im Moment des Erlebnisses gerade diesen Zeitsprung lang auch die Sprache sich belebte und mitteilbar wurde […]. Einen Zeitsprung lang wurde der Wortschatz, welcher mich Tag und Nacht durchquerte, gegenständlich. Was auch immer ich erlebte, erschien in diesem ‚Augenblick der Sprache‘ von jeder Privatheit befreit und allgemein." (DGW, S. 6) Solche "Augenblicke der Sprache", in denen zweckfreie Wahrnehmungen, Gedanken oder Erinnerungen im Moment des Sprachlichwerdens festgehalten werden sollen (vgl. Pektor b, S. 303ff.), erlebt Handke vor allem unterwegs. Die Notizen entstehen nicht im Rahmen von festgelegten schriftstellerischen 'Arbeitszeiten', das Notieren wird vielmehr zum fixen Bestandteil seines Alltags, wie Handke im bereits zitierten Vorwort zu Das Gewicht der Welt berichtet: "Die notwendige Fast-Gleichzeitigkeit der Reflexe und ihrer Aufzeichnung brachte es mit sich, daß sie in allen Lebenslagen gemacht wurden, nur nicht am Schreibtisch; bis in den Schlaf hinein zwang ich mich, sofort zu reagieren; zum Zustandekommen mancher Aufzeichnungen könnte man Geschichten erzählen, wie man sie erzählen hört zu Bildern, die jemand von einer Expedition mitbringt, nur vielleicht komischer." (DGW, S. 6f.)
In den Notizen hält Handke momentane Wahrnehmungen und Erfahrungen fest, er setzt sich aber auch intensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinander, mit seinen Prägungen und Erinnerungen. Die Themen Herkunft und Familie werden ihn auch in den nachfolgenden Notizbüchern beschäftigen: Erinnerungen an Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit oder der frühesten Kindheit kommen ihm nicht nur unwillkürlich in den Sinn, Handke wird sich auch aktiv darin üben, seine Erinnerungsfähigkeit zu verbessern – im vorliegenden Notizbuch ist einmal die Rede von seinen "Erinnerungsruinen" (ES. 87): "Ich versuche, mich an die Einzelheiten von Orten zu erinnern, und es kommen nur Ruinen zustande" (ebd.).
In einem der frühesten Einträge dieses Notizbuchs vom 5. März 1976 unterstreicht Handke die sinnliche Dimension seiner Erinnerungen und bringt den ästhetischen Begriff der Gestalt ins Spiel. Er beschreibt das "Gefühl, als ob fast alles, was ich bis jetzt in der Vergangenheit gesehen + gehört habe, in mir sofort die Gestalt verliert, die ursprüngliche, weder unmittelbar beschreibbar durch Worte noch abbildbar durch Bilder mehr ist und sich in etwas völlig Gestaltloses verpuppt" (ES. 5f.). Das Schreiben solle "eine Erweckung der gestaltlos verpuppten Erlebnisse zu völlig neuen Gestalten" (ES. 6) sein, "die aber doch durch mein Gefühl immer noch eine Verbindung mit den ursprünglichen Erlebnissen behielten – zu diesen authentischen, tatsächlichen, bedeutungslosen DINGEN also die mythologischen BILDER meines Bewußtseins und meiner Existenz wären" (ES. 8). Die "Zukunftsarbeit", so Handke, bestünde darin, seine inneren "Zwischendinger[] zwischen Sachen und Bildern […] durchs Schreiben vorstellungs- und sprachfest zu machen + zu etwas still strahlendem Neuen, in dem das Alte aber geahnt ist, wie die Raupe im Schmetterling." (Ebd.).
Lektüren
Mit Ausnahme eines Zitats aus John Cowper Powysʼ Roman Wolf Solent (ES. 44) nennt Handke im vorliegenden Notizbuch keine rezipierten Bücher oder Kunstwerke. Erwähnt wird lediglich eine Fernsehsendung mit Alexander I. Solschenizyn (ES. 66ff.).
Schreibprojekte
Beim Notieren ist Handkes Fokus nicht mehr auf bestimmte, aktuell in Arbeit befindliche Werke gerichtet, er schreibt vielmehr auf, was ihm gerade in den Sinn oder in den Blick gerät. Diese Öffnung der Schreibmethode aufs Unbestimmte hin verwandelt die Notizbücher in Speichermedien für Erzählmaterial. Manche der hier festgehaltenen Erinnerungen tauchen Jahre später in literarischen Werken von Handke auf, ohne dass sie im Notizbuch selbst bereits konkrete Werkzusammenhänge erkennen ließen. Handke erwähnt etwa das "Warten in der Nacht nach der Aufnahmeprüfung im Internat, an einer Obus-Haltestelle in St. Peter bei Klagenfurt, im Regen, die Zusammengehörigkeit plötzlich mit der Mutter, und wie wir hinten im Auto mitgenommen wurden von jemanden, und das Auto hatte keine Rücksitze, sodaß wir auf dem Autoboden saßen" (ES. 9). Diese erinnerte Begebenheit kommt als Szene in der 1986 erschienenen Erzählung Die Wiederholung vor (DW 30f.). Die Notiz: "Meine Schwester will ein Geschäft aufmachen und will Geld dafür [...]" (ES. 3) –, fließt in die Figurenkonzeption von Sophie, der Schwester von Gregor im dramatischen Gedicht Über die Dörfer (1981) ein (ÜD 11, 56f., vgl. Pektor a).
Obwohl Handke im März 1976 das Typoskript seiner Erzählung Die linkshändige Frau (1976) überarbeitete (vgl. Pektor c), enthält das Notizbuch nur einen dem Werk explizit zugeordneten Eintrag: "'für die Unbekannte, die mir in einer Gasse entgegenkam und seitdem immer + nirgends' (Die linkshändige Frau)" (ES. 18f.). In der publizierten Fassung der Erzählung ist diese Widmung nicht enthalten, viele Aufzeichnungen und Reflexionen in NB 002 spiegeln aber Themen der Linkshändigen Frau wider, etwa die Frage nach der Vereinbarkeit von Schreiben und Familie (vgl. dazu auch Pektor c).
Die meisten Einträge dieses Notizbuchs wurden von Handke in bearbeiteter Form in sein erstes Journal Das Gewicht der Welt (1977) übernommen, darunter ist auch jene Notiz, die vermutlich "den Titel des Journals mitbestimmt hat" (Pektor a): "Was es noch vor 10 Jahren (66) für Einschüchterungen gab: 'Die konkrete Poesie', 'Andy Warhol', und dann Marx & Freud – und jetzt sind all diese leeren Frechheiten verflogen, und nichts soll irgendeinen mehr erschüttern als das Gewicht der Welt" (ES. 16).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält viele Zeichnungen und Kritzeleien, die sich motivisch und stilistisch von Zeichnungen aus Handkes Hand unterscheiden; sie dürften entweder im Spiel mit seiner damals sechsjährigen Tochter Amina entstanden sein, oder überhaupt von ihr stammen. Nur eine Zeichnung kann eindeutig Peter Handke zugeschrieben werden (Z09/NB 002, ES. 94).
Literaturverzeichnis
DGW = Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977). Salzburg: Residenz 1977.
DW = Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986.
ÜD = Handke, Peter: Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973-1976). In: Handkeonline, https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 12.01.2023.
Pektor a = Pektor, Katharina: Eine Woche im März. Notizbuch, 92 Seiten, 05.03.1976 bis 15.03.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/269. Online abgerufen: 13.02.2023.
Pektor b = Pektor, Katharina: "Wartet nur – ich bin jemand, der sich organisiert!" Peter Handkes Projekt des Notierens. In: Atze, Marcel / Kaukoreit, Volker (Hg.): "Gedanken reisen, Einfälle kommen an". Die Welt der Notiz. (= Sichtungen, 16./17. Jg.) Wien: praesens 2017, S. 300-323.
Pektor c = Pektor, Katharina: Entstehungskontext [DF]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1389. Online abgerufen: 13.2.2023.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554377 ]
Material: Notizbuch (Marke Clairefontaine), kariert, Spiralbindung
Format: 11,8 x 7,4 cm
Umschlag: Dunkelbrauner Kartonumschlag (Leinenoptik), Vorderseite: Markenlogo und eh. Datum in weißem Beschriftungsfeld (Kugelschreiber: blau), Rückseite: Markenlogo
Umfang: 94 Seiten; 101 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, (1-94 unpag.), I*
Verwendete Schreibstoffe: Fineliner (schwarz, blau, rot, pink), Kugelschreiber (blau, rot), Bleistift, Filzstift (blau, grün), Füllfeder (schwarz)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Beschriftung im Seitenschnitt »PETER HANDKE« (Fineliner: schwarz)
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen: keine vorhanden
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/269
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Wovor?
kurzsichtig werden davon,
daß man sich selber
anstarrt
Staubzucker auf meinem
Schuh vom Krapfenessen
Das Gefühl, daß manche
sich in der Welt bewegen
wie Leute, die
auf die Uhr
schauen, ohne wirklich die
Zeit wahrzunehmen: als
genüge der Blick auf die Uhr,
um die Zeit zu wissen
(oder als
im Halbschlaf
träumen, immer wieder auf
die Uhr zu schauen, weil
sie bald aufstehen müssen;
die aber nicht wirklich
auf die Uhr schauen, nur
im Traum
"Zerfressene Nase, ekelhafter
Mund"
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Handke, Peter: Notizbuch 05.03.1976-15.03.1976 (NB 002). Hg. von
Johanna Eigner und Katharina Pektor. In:
Ders.: Notizbücher. Digitale Edition. Hg. von Katharina Pektor, Ulrich von Bülow und Bernhard Fetz. Deutsches Literaturarchiv Marbach und Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Release
14.06.2024.
Seite 88.
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Ioannis Fykias (Altgriechisch), Ana Grigalashvili (Georgisch), Angelika Kolesnikow (Russisch), Anna Montané Forasté (Spanisch), Helmut Moysich (Italienisch, Französisch), Martin Springinklee (Steno), Dominik Srienc (Slowenisch) und Dorothea Weber (Latein).
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