Notizbuch 09.08.1976-15.09.1976 (NB W12) enthält einerseits Peter Handkes Aufzeichnungen während seiner Fuß- und Busreise durch die Dörfer seiner Herkunftsgegend Kärnten in der Zeit von 9. bis 15. August 1976, mit Beschreibungen von Orten und ländlichen Alltagsszenen. Es beinhaltet andererseits die Notizen während seines Aufenthalts in Paris von 6. bis 15. September 1976, wo sich der Autor auf die Suche nach einer neuen Wohnung konzentrierte. Zwischen beiden Aufenthalten liegt eine zeitliche Lücke, die von einem anderen Notizbuch abgedeckt wird. Lektürehinweise Handkes findet man im vorliegenden Notizbuch nur wenige, allerdings beschreibt er an zahlreichen Stellen Kircheninventar wie Statuen oder Altäre.
Material
Eigentlich handelt es sich bei dem Notizbuch vielmehr um ein spiralgebundenes orangefarbenes Notizheft im DIN A6-Format (7 x 10 cm), mit einem Umfang von 88 karierten Seiten. Es wurde von Peter Handke mit blauem und schwarzem Kugelschreiber beschrieben und am unteren Seitenrand paginiert. Eine weitere mit Bleistift vorgenommene Paginierung am oberen Seitenrand stammt vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, wo das Original als Teil der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich aufbewahrt wird. Umschläge und Beilagen inkludiert, zählt die digitale Edition 93 Editionsseiten (ES.). Auf den vorderen Umschlag schrieb Handke in großen Lettern “Ins tiefe Österreich”, den Titel eines Romanprojekts, das in seiner intendierten Form allerdings nie realisiert wurde; es ging in den zur Tetralogie zusammengefassten Werken Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Kindergeschichte (1981) und Über die Dörfer (1981) sowie in der Erzählung Die Wiederholung (1986) auf. Das Notizbuch zählt damit zu insgesamt acht Notizbüchern, die Handke am Umschlag oder Vorsatz diesem Schreibprojekt zugeordnet hat.
Aufenthaltsorte: Reise durch Kärnten
Der erste Teil des Notizbuchs fällt in die Zeit einer insgesamt fast zweimonatigen Österreichreise Peter Handkes, die er von Anfang Juli 1976 bis Ende August 1976 unternahm. Dokumentiert ist diese in vier Notizbüchern: Wie man am Ende von Notizbuch 13.06.1976-04.07.1976 (NB 006) lesen kann, begann die Reise bereits am 3. Juli in Kärnten, führte ihn dann (mit Notizbuch 05.07.1976-21.07.1976 (NB 007)) ins Mühl- und Waldviertel und weiter bis nach Wien und retour nach Salzburg (vgl. Pektor a). Die zweite Reiseetappe nach Westösterreich (Tirol und Vorarlberg) „und über München zurück nach Salzburg, Kärnten und Italien“ (Pektor b) ist im Notizbuch 21.07.1976-10.09.1976 (NB W13) festgehalten. Die dort ausgesparten Tage von 9. bis 15. August, in denen Handke durch Kärnten reiste, finden sich allerdings im vorliegenden Notizbuch: Die eingetragenen Ortsnamen ergeben folgende Route “über die Dörfer”: Ferlach, Zell-Pfarre, Stein im Jauntal, Abriach, Eberndorf, Globasnitz, Bleiburg, Aich, Lippitzbach, Lisnaberg, Griffen, Ruden, Gletschach, Haimburg, Völkermarkt, Abtei, Hörtendorf und Karnburg. Handke notierte unterwegs kleine Alltagszenen und - gespräche des ländlichen Lebens, beschrieb Landschaftsbilder und Stimmungen und das Inventar vieler Kirchen, vor allem der seines Geburtsorts Griffen.
Historischer Kontext: Kärnten in den 1970er Jahren
Handkes Kärntenreise fällt in eine politisch aufgeladene Zeit: 1972 wurden mit dem sogenannten Ortstafelgesetz gemäß Artikel 7 des Staatsvertrages 205 Ortschaften zum Aufstellen zweisprachiger (slowenischer und deutscher) Ortstafeln verpflichtet (vgl. Karner 2008, hier S. 141f.). Diese wurden im Zuge eines “Ortstafel-Sturms” im Herbst 1972 wieder demontiert (vgl. Reimann 2005, hier S. 141f.). Im Jahr von Handkes Reise 1976 schließlich folgte eine „geheime Erhebung der Muttersprache“, die wiederum von der slowenischen Volksgruppe boykottiert wurde (vgl. Karner 2008, hier S. 143). Im selben Jahr wurde das Volksgruppengesetz beschlossen, das mindestens 25% Slowen*innen als Grundlage für „zweisprachige topographische Aufschriften“ festlegte (vgl. Ebd., hier S. 144). Die Spannungen verschärften sich 1976 weiter, es kam zu zahlreichen Demonstrationen und sogar Sprengstoffanschlägen.
Zitate aus der Kleinen Zeitung, die von Aufständen gegen die Denkmalweihe in St. Kanzian am 8. August 1976 berichten, belegen eine Auseinandersetzung Handkes mit den aktuellen politischen Ereignissen. Das Notizbuch zeigt zudem Handkes Aufmerksamkeit auf das Slowenische, die slowenische oder “windische" Sprache sowie sein umfassendes Interesse an der weiter zurückliegenden Thematik der Kärntner Slowen*innen und Partisan*innen, die in seinem Werk auf unterschiedliche Weise immer wieder eine Rolle spielen: sehr prominent und verbunden mit seiner Herkunftsgegend Kärnten etwa in der Erzählung Die Wiederholung (1986) oder in seinem Theaterstück Immer noch Sturm (2010).
Aufenthaltsorte: Wohnungssuche in Paris
Der zweite Teil der Notizbuchaufzeichnungen aus dem Zeitraum von 7. bis 15. September 1976 entstand während Peter Handkes Wohnungssuche in Paris und Vororten wie Neuilly-sur-Seine, die von ausgiebigen Wanderungen begleitet wurden. Noch vor Reisebeginn Ende Juni 1976 hatte Handke seine Pariser Wohnung am Boulevard Montmorency aufgelöst und war ohne seine Tochter Amina zu seiner Österreichreise aufgebrochen. Während dieser Zeit hatte er keinen festen Wohnsitz, auf dem Vorsatzblatt des Notizbuches vermerkte er wohl deshalb als Kontaktadresse die Adresse des Residenzverlages. Die neue Wohnung in der rue Cécile Dinant in Clamart bezog er erst Anfang Oktober 1976 (vgl. Pektor c). Zuvor wohnte er mit seiner Tochter Amina, deren Schule bereits im September startete, in einem Hotel in Meudon.
Lektüren
Abgesehen von kleineren Zeitungszitaten findet man in diesem Notizbuch nur wenige Hinweise auf Lektüren Handkes. So zitiert er drei Artikel aus der Kleinen Zeitung, die sich mit einer Denkmalweihe und damit verbundenen Unruhen in St. Kanzian beschäftigen (ES. 5ff., 26). In Paris notiert er eine Passage aus einem Interview mit dem Politiker Kurt Biedenkopf, das in Die Zeit erschienen ist (ES. 74f.). Außerdem enthält das Notizbuch Zitate aus Antimémoires von André Malraux (ES. 70) und aus dem Interview Autoportrait à soixante dix ans, das Michel Contat mit Jean-Paul Sartre anlässlich dessen 70. Geburtstages 1975 führte (ES. 79). Ob seine Bemerkungen zu Goethe (ES. 7 und ES. 60f.) und Doderer (ES. 76) mit einer Lektüre in Zusammenhang stehen, kann nicht gesagt werden. Neben Lektüren notiert Handke auch Inschriften von Grabsteinen (ES. 43) und Statuen (ES. 48).
Schreibprojekte
Inwiefern das Notizbuch Vorlage für Werke war, ist nicht Gegenstand der Edition, auf der Website Handkeonline sind Informationen über mögliche Werkbezüge nachzulesen (Pektor d): So wurde ein kleiner, stark überarbeiteter Teil der Einträge in das Journal Das Gewicht der Welt (1977) übernommen. Einzelne Notizen, besonders zu Stift Griffen, könnten in das dramatische Gedicht Über die Dörfer (1981) eingeflossen sein – zumindest dürfte die Inspiration zum Titel von einer Notiz vom 7. September 1976 stammen: „'Über die Dörfer' (Titel einer Geschichte)“ (ES. 63). Die beschriebenen Gebiete spielen schließlich auch in der Erzählung Die Wiederholung (1986) eine Rolle, ebenso einzelne Motive wie der Bildstockmaler.
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält insgesamt 7 Zeichnungen und ein eingeklebtes Baum- oder Strauchblatt (M1/NB W12) (ES. 43). Die während seiner Reise durch Kärnten entstandenen Zeichnungen zeigen u.a. den Kirchturm von Gletschach (Z6/NB W12) (ES. 52) sowie Details von Bildern oder Skulpturen in Kirchen. In der seitenlangen Beschreibung von Stift Griffen (ES. 41ff.) etwa skizziert Handke ein Bilddetail der 12. Kreuzwegstation (Z3/NB W12) (ES. 45), die Lippenform einer Marienstatue (Z5/NB W12) (ES. 48) und eine abgeschnittene Brust auf einem Teller, gehalten von der Hand einer Heiligen (Z4/NB W12) (ES. 47).
(Johanna Eigner)
Literaturverzeichnis
Pektor a = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 96 Seiten, 05.07.1976 bis 21.07.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/282. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor b = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizblock, 82 Seiten, 21.07.1976 bis 10.09.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/284. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor c = Pektor, Katharina: Clamart, 53 rue Cécile Dinant (1976-1978). In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1567. Online abgerufen: 21.11.2022.
Pektor d = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 88 Seiten, 09.08.1976 bis 15.09.1976. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/286. Online abgerufen: 21.11.2022.
Karner, Stefan: Minderheitenproblematik in Kärnten. In: Karner, Stefan / Mikoletzky, Lorenz (Hg.): Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck / Wien / Bozen: StudienVerlag 2008, S. 139-151.
Reimann, Reinhard: Systematische Verhinderung? Die Politik gegenüber der slowenischen Minderheit in den Siebzigerjahren. In: Karner, Stefan / Moritsch, Andreas (Hg.): Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Karner, Stefan (Hg.): Kärnten und die nationale Frage. Band 1. Klagenfurt / Ljubljana / Wien: Verlag Johannes Heyn 2005, S. 133-159.
Aufbewahrungsort: Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB/LIT)
Notizbuch-Signatur: ÖLA SPH/LW/W12
Material: Notizbuch (Marke Dachstein), kariert, Spiralbindung
Format: 10 x 7 cm
Umschlag: Oranger Kartonumschlag, Vorderseite: Markenlogo und eh. Titel "Ins tiefe Österreich" (Kugelschreiber: schwarz)
Umfang: 88 Seiten; 93 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 1-88, I* (zusätzliche Bleistiftpaginierung des LIT/ÖNB inkl. Vorsatz: I, 1-88, I*)
Verwendete Schreibstoffe: Kugelschreiber (blau, schwarz), Bleistift
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: eine nicht identifizierte Person
Anmerkung: keine
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen: keine vorhanden
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/286
Anzahl der erfassten Entitäten: 227
Handke, Peter: Notizbuch 09.08.1976-15.09.1976 (NB W12). Hg. von
Johanna Eigner und Katharina Pektor. In:
Ders.: Notizbücher. Digitale Edition. Hg. von Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor. Deutsches Literaturarchiv Marbach und Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Release
02.05.2023.
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