Peter Handke hielt sich zu Beginn des Aufzeichnungszeitraums von Notizbuch 27.11.1978-11.02.1979 (NB 018) noch in New York auf, wo er seit Anfang Oktober an der ersten Fassung von Langsame Heimkehr arbeitete. Am 13. Dezember flog er für eine Woche nach Madrid und anschließend nach Paris (über Weihnachten) und Venedig (über den Jahreswechsel 1978/79). Das Betrachten und Beschreiben von Gemälden, das er bereits in New York waren während diverser Museumsbesuche begonnen hatte, setzte er nach seiner Rückkehr nach Europa fort. Neben dem Museo del Prado in Madrid besuchte er bis Februar jeweils mehrmals den Louvre und die Galerie Nationale du Jeu de Paume in Paris, die Gallerie dellʼAccademia in Venedig und die Münchner Pinakothek. Bis Anfang 1979 schrieb Handke an der ersten Textfassung seiner Erzählung Langsame Heimkehr, die er am 6. Jänner beendete; am darauffolgenden Tag begann er mit der Niederschrift einer zweiten Fassung. Er wohnte in dieser Zeit bei Hermann und Hanne Lenz, die Handke einige Wochen lang bei sich aufnahmen.
Material
Das Notizbuch (Format 14,8 x 9 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Es hat einen braunen Kartonumschlag und einen schwarzen Leinenbuchrücken. Auf der Vorderseite des Umschlags klebt eine Fotografie. Sie zeigt Wolken und ein Stück blauen Himmels und bedeckt das Cover fast zur Gänze. Das Notizbuch mit Fadenheftung hat einen Umfang von 144 linierten und eh. paginierten Seiten. Auf der Innenseite des vorderen Umschlags notierte Handke den Titel "Die Vorzeitformen", Namen von Hotels und von besuchten Orten. Mit rotem Stift vermerkt er als Kontaktadresse jene seines Apartments im New Yorker Adams Hotel und den Zeitraum, in dem die Notizen entstanden. Weitere Einträge auf dieser Seite sind praktisch unleserlich, weil die rote Stiftfarbe hier mit der braunen Farbe der Umschlaginnenseite verschmilzt. Die Innenseite des hinteren Umschlags ist leer; Handke benutzte stattdessen die letzte Notizbuchseite (ES. 146) als Vorsatz und notierte dort diverse Namen, Adressen und Telefonnummern sowie spanische Vokabeln und eine Notiz. Das Originalnotizbuch enthält als Beilage einen Zeitungsausschnitt (ursprünglich wahrscheinlich zwischen S. 64/65 bzw. ES. 37/38 eingelegt) mit dem Artikel "Der Sternenhimmel im September" (B02/NB 018).
Aufenthaltsorte
Das erste Drittel der Notizen entstand in New York, wo Handke seit Anfang Oktober im Adams Hotel (vgl. NB 017) lebte. Nachdem er Ende November seine Aufzeichnungen in NB 018 begonnen hatte, hielt er sich noch ca. drei Wochen lang dort auf, eher er Mitte Dezember zurück nach Europa flog. Handkes ursprüngliche Pläne sind Siegfried Unselds Chronik zu entnehmen; der Verleger hatte ihn im November 1978 in New York besucht: "Er ist noch drei Wochen in diesem Hotel, dann will er zwei Monate nach Madrid gehen, dann ein paar Monate nach Athen." (Handke / Unseld 2012, S. 352). Nach Madrid kam Handke am 13. Dezember (vgl. ES. 47), wo er im Luxushotel "Palace" wohnte – nicht wie ursprünglich geplant für zwei Monate, sondern nur für eine Woche. Die zahlreichen Beschreibungen von Gemälden im Prado lassen den Schluss zu, dass Handke einen nicht unwesentlichen Teil seines Aufenthalts dort verbrachte. Am 19. Dezember notierte er: "Letzter Morgen in Madrid, an dem ich schon ein bißchen hänge wegen dem Prado; der Allee; der Cafeteria; der Hotelkuppel; dem Schuhputzraum; dem Raum der Zimmerfrauen – solche Räume beschwören gegen die Alpträume [...]" (ES. 72).
Handkes nächste Reisestation war Paris (ES. 73), wo er bei Domenika Kaesdorf wohnte, die im Notizbuch als "D." vorkommt (vgl. Kepplinger-Prinz); er besuchte die Galerie Nationale du Jeu de Paume (vgl. ES. 74f.) und den Louvre (vgl. ES. 76). Am 24. Dezember nahm er vermutlich an einer Messe in der Kathedrale Notre-Dame de Paris teil (vgl. ES. 77: "Die Menge in Notre-Dame, die mich an die Dächer von New York erinnerte (das Schlüsselklirren der Mesner)". Am 25. Dezember dürfte er in die Ausstellung Les frères Le Nain im Grand Palais gegangen sein, abends den Nachtzug nach Venedig genommen haben (vgl. ES. 77-79), wo er Silvester verbrachte. Dort besuchte er die Gallerie dellʼAccademia sowie diverse Basiliken und reiste am 2. Jänner nach Tarvis (ES. 86).
In den folgenden zwei Wochen wohnte er bei Hanne und Hermann Lenz in München, um an Langsame Heimkehr zu arbeiten – Handke wird dem Ehepaar später den poetologischen Essay Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) widmen: "Für Hermann und Hanne Lenz, zum Dank für den Januar 1979". Unter dem Datum des 11. Jänner finden sich im Notizbuch diverse Bildbeschreibungen von Gemälden aus der Münchner Pinakothek (vgl. ES. 99f.). Handke verbrachte nicht den gesamten Jänner im München; in einem Eintrag vom 17. Jänner erwähnt er den Domberg in Freising (ES. 107); zwei Tage später notierte er: "S, seinen Geschwistern die Karten schreibend, nennt diese doch heimlich 'Gesindel!' (→ Kitzbühel)" (ES. 113). Es ist unklar, mit wem sich Handke in Kitzbühel aufhielt, er könnte eventuell Hubert Burda begleitet haben (womöglich steht die Abkürzung "H." an einigen Stellen in NB 018 für "Hubert"); einige Einträge deuten darauf hin, dass er sich im High Society-Umfeld des Wintersportortes bewegte: "Der Tod im Reichtum; das Totenhafte des Reichtums" (ES. 114); "Weinen darüber, daß er gegen seinen Willen fotografiert wird (so wie ich damals auf dem Wörthersee fast weinte, weil ich 'Autogramme' geben mußte)" (ES. 118, Handke bezieht sich hier auf NB 006, ES. 101). Auf ES. 122 finden sich folgende Einträge: "Der ihn erkennt, zieht sich erst einmal von ihm zurück; versteckt sich; tritt dann erst vor und begrüßt ihn; fragt ihn, ob er es sei"; "mit einer Gruppe Unbekannter, die sich in der Menge bewegen, mitgehen (Pelzmantelgruppe schöner Leute)". In einer Notiz zu Langsame Heimkehr findet sich der "Anfang eines Tagtraums" skizziert: "S. findet eine alte Einladung zu einem berühmten Schirennen, wo S. und der Schilehrer gemeinsam stehen (eingeladen sind)" (ES. 120). Im Rahmen des Alpinen Ski Weltcups 1978/79 wurde am 20. Jänner 1979 die Abfahrt der Herren in Kitzbühel veranstaltet – unter diesem Datum erwähnt Handke eine "Ehrentribüne" (ES. 117) – möglicherweise besuchte er dieses Skirennen und nutzte seinen Aufenthalt in Kitzbühel, um 'Feldforschung' für sein Buch zu betreiben, wobei er mehrmals ein Hotel in den Rocky Mountains (meist abgekürzt mit "R.M.") erwähnt, das in der Erzählung auch vorkommt – vielleicht diente das Hotel, in dem er in Kitzbühel wohnte, als Vorbild – das Rocky-Mountains-Hotel wird in der Erzählung schließlich so beschrieben: "Das Hotel war einem europäischen Alpengasthof nachgebaut, mit einem Holzbalkon, ummalten Fenstern und einer Sonnenuhr." (LH, S. 162). Valentin Sorger wohnt dort, als er einen früheren Freund besuchen will, der als Skilehrer in den Rocky Mountains arbeitete, bei der Ankunft Sorgers jedoch bereits verstorben ist (vgl. LH, S. 159-167).
Handke kehrte Ende Jänner noch einmal nach München zurück und wohnte dort wahrscheinlich abermals bei Hanne und Hermann Lenz. Am 29. Jänner beendete er die zweite Textfassung von Langsame Heimkehr und notierte an diesem Tag in sein Notizbuch: "HALLELUJAH! 29. Januar 1979 15 h" (ES. 135); zwei Tage später besuchte er wieder die Pinakothek – das Notizbuch enthält Bildbeschreibungen von dort ausgestellten Gemälden (ES. 135f.). Am 30. Jänner 1979 gibt er in einem Brief an Siegfried Unseld die Münchner Adresse des Ehepaars Lenz an (Handke / Unseld 2012, S. 354). Er schreibt darin, dass er wohl ab 12. Februar bei Hildegard und Walter Greinert in Neuilly wohnen werde, es kam aber anders (wahrscheinlich erfuhr Handke, dass die Greinerts nicht in Paris waren): er reiste Anfang Februar nach Neubruck bei Scheibbs, wo er das Ehepaar besuchte (vgl. ES. 139 und 141). Am 8. Februar schreibt er aus Neubruck "(im Erlauftal, wo der Regen plätschert)" an Hermann Lenz (Handke / Lenz 2006, S. 132), spätestens am 10. Februar ist er in Wien (ES. 144f.). Siegfried Unseld berichtet in seiner Chronik von einem Text, den ihm Handke zusammen mit Notizbuch 31.08.1978-18.10.1978 (NB 016) am 19. Februar 1979 bei einem Besuch in Frankfurt geschenkt habe. Der Text sei am 10. Februar im Hotel Bristol in Wien entstanden, wie Unseld anmerkt (Handke / Unseld 2012, S. 360).
Themen
Wie bereits in NB 017 drehen sich auch fast alle Notizen im vorliegenden Notizbuch um die Erzählung Langsame Heimkehr, an deren erster Textfassung Handke seit Anfang Oktober 1978 arbeitete. Er beschäftigte sich in NB 018 eingehender mit Figuren, die in NB 017 am Rande erwähnt worden waren (Lauffer, Esch, die Indianerin); neu hinzu kamen die "Nachbarn". Bedeutsame Schauplätze der Erzählung, die Handke in NB 018 viele Male erwähnt, sind beispielsweise der "Paß" (oftmals als Abkürzung "P."), auf dem Sorger eine katastrophale "lebensentscheidende Stunde" widerfährt, als er von der Nachbarin nicht erkannt wird (LH, S. 136ff.; vgl. dazu auch ES. 83: "Vor dem Fall S.'s in S.F.: er war ja durch Wochen Sprachlosigkeit, wo er sogar aufgehört hätte, mit sich selber, auch im stillen, zu reden, nahe daran gekommen – und nun, beim Nicht-Erkanntwerden von der Nachbarsfrau, ereignet es sich eben") und der "Coffee Shop" (teilweise als "C.S." abgekürzt), in dem ihn ein Glückserlebnis in der Art einer Epiphanie überkommt (LH, S. 174ff; vgl. dazu auch ES. 98: "Ist das in dem coffeeshop eine 'titanische' Konvulsion? 'Unbußfertigkeit', 'Bußfertigkeit', 'Verstocktheit'" und ES. 103: "Sorger war 36 Jahre alt im coffee shop; er war ergriffen von seinem eigenen Bild").
Am 17. Dezember schrieb Handke aus Madrid eine Postkarte an Alfred Kolleritsch: "Lieber Alfred, hoffentlich geht es Dir gut. Manchmal ist es mir unheimlich, daß ich von niemandem etwas höre. Das geht auch nicht, und ich bin bald krank. Was für falsche Ideen ich vom Schreiben hatte! Ich bin schwach, dabei in der Schwäche glaube ich, offen, nicht nur im Sinne eines Wundseins. Die Geschichte, die ich versuche zu schreiben, zieht mich so tief, daß ich ganz neue unerhörte Ängste habe. Ich hoffe, Dich bald wiederzusehen." (Handke / Kolleritsch 2006, S. 116) Wie sich diese Ängste manifestierten, zeigt exemplarisch eine Notiz, die während Handkes Aufenthalt in Madrid entstand: "Was heißt das: 'Mein Ende'? (Hat S. einen Anfang? Ist es der Aufenthalt unter der rauschenden Fichte im Graben hinter seinem Geburtshaus? Ist es das unter-der Traufe-draußen Sitzen und fröstelnd-glücklich in den Regen schauen? (wie Amina den Sternenhimmel angeschaut hat im Sandkasten liegend?) – Vielleicht werde ich mich in der Geschichte ganz preisgeben müssen, ohne Rest für eine meine, Schreibzukunft ... " (ES. 56f.). Bereits auf ES. 18 notierte Handke: "Wenn ich die Geschichte schaffe, habe ich wirklich meine Pflicht getan auf Erden" (ES. 18); auf ES. 44 heißt es: "Was ich schreibe, muß wirklich ein Gesang werden". Handke beschäftigte sich im Aufzeichnungszeitraum mit grundlegenden Fragen das Verhältnis Realität – Fiktion betreffend, und wie dieses in seiner Erzählung zu konfigurieren sei, wie etwa aus den folgenden Einträgen hervorgeht: "Die andern nicht nur schöpferisch nach-denken – sie PRAKTIZIEREN, fangen, tragen: einzige Lösung" (ES. 15); "S. darf nie ich sein; er muß tief in die Verantwortlichkeit aller hineinschneiden" (ES. 18). Die "Geschichte S.'s" (Sorgers) nennt Handke "die Verwandlung eines Wissenschaftlers in einen Künstler (keine Entwicklung)" (ES. 12).
Ein zentraler Stellenwert kommt in Handkes Überlegungen der Geschichte – der "Historie" ebenso wie seiner eigenen Herkunftsgeschichte zu: "Es ist schon wirklich ein furchtbares Problem der Historie in der Geschichte, die ich schreibe(n) möchte): da diese vom Fähigwerden, vom Vollkommenen, Reinen usw. handeln soll, muß sie in Konflikt mit der Historie (3. Reich) kommen, wo dies wie für immer verschandelt wurde: Macht, Fähigkeit, Kraft, Ehe, Liebe, Natur usw. – das ist es, was mich beim Schreiben so oft mit GRAUEN erfüllt (und jetzt, in Madrid im weichen Bett einsinkend, fühlte ich mich auch wirklich in die Monster-Geschichte gezogen, und hatte ein Bild, wie S. in New York im Hotel wirklich hinuntersteigt in die Lobby (Vietnam) als in die Unterwelt der Geschichte (mit dem einsinkenden Bett in Madrid)" (ES. 49); "[m]eine Geschichte (ich) hat ein Gesetz (Ich kann mir also nicht das Gesetz geben, oder?) (ES. 22); "[w]arum habe ich Angst (Grausen) vor dem Elternhaus?" (ES. 64); "Warum gibt es für mich die Vergangenheit fast nur noch als Schrecken?" (ES. 77). In den Notizen wird zum Teil eklatant deutlich, wie eng die Verzahnung von Autobiographie und Fiktion bei Handke ist, wenn er beständig zwischen der ersten und dritten Person changiert: "Er will seinem Kind KULTUR beibringen?" (ES. 21); "[w]ie es kommt, daß ich selber keine Kultur habe (muß erzählt werden)" (ES. 22); "[w]as sind S.'s Bilder aus der Kindheit? (jetzt der Geruch des Kaffees vor mir und die spanische Dose zu Hause vor 30 Jahren!)" (ebd.). Auf ES. 130 notierte Handke: "Anblick der Notizbücher: mächtiges Zartgefühl ergreift S.; er ist eine ruhige Farbe unter ihnen".
Lektüren
NB 018 enthält viele Lektürezitate aus Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters, Ovids Metamorphosen (im lateinischen Original) und Jorge Luis Borgesʼ Erzählungsband Labyrinthe; Handke las außerdem Tania Blixens Winterʼs Tales zu Ende, er erwähnt den Titel des Debütromans Keiner weiß mehr seines 1975 verstorbenen Freundes Rolf Dieter Brinkmann, zitiert eine Stelle aus Hermann Lenzʼ Roman Tagebuch vom Leben und Überleben und eine ganze Reihe von Goethe-Gedichten (darunter Dauer im Wechsel und Urworte, orphisch) und zwei Gedichte von Georg Trakl. Handke dürfte außerdem Denis Diderots ästhetischen Dialog Paradox über den Schauspieler gelesen haben, auf den er sich im Notizbuch an mehreren Stellen bezieht. Ausführlicher als dem Lesen widmete sich Handke im Aufzeichnungszeitraum von NB 018 jedoch dem Betrachten von Bildern in diversen Museen. So enthält das Notizbuch unzählige Bildbeschreibungen, die im Metropolitan Museum of Art und im Museum of Modern Art in New York entstanden, im Madrider Prado, in der Galerie Nationale du Jeu de Paume (die Bilder, die Handke auf ES. 74f. beschreibt, waren bis 1986 in der Galerie du Jeu de Paume zu sehen und befinden sich heute im Musée d´Orsay) und im Louvre in Paris, wo Handke Ende Dezember außerdem die Ausstellung Les frères Le Nain im Grand Palais besucht haben dürfte, schließlich besuchte er noch die Gallerie dellʼAccademia in Venedig und die Münchner Pinakothek.
Schreibprojekte
Wie schon in NB 017 steht auch im vorliegenden Notizbuch Handkes Arbeit an seiner Erzählung Langsame Heimkehr im Zentrum. Nachdem Handke Mitte Dezember aus den USA nach Europa zurückgekehrt war, und sich zunächst in Madrid, Paris und Venedig aufgehalten hatte, nahm ihn Anfang Jänner das Ehepaar Hanne und Hermann Lenz in ihrem Haus in München bei sich auf. Am 27. November 1978, dem letzten eingetragenen Schreibdatum in NB 017, hatte Handke aus New York an Lenz geschrieben und dem Freund seine Schreibsorgen anvertraut: "Oft möchte ich Dich um Rat fragen – wie man so etwas lebendiger Seele durchsteht. Seit 45 Tagen schreibe ich tagaus, tagein und weiß oft nicht mehr, was ein Wort mit dem anderen zu tun hat – was 1 Wort überhaupt sagt." (Handke / Lenz 2006, S. 131). Nach vielen Monaten des Unterwegsseins machte Handke das Alleinsein zu schaffen; er empfand es als Erleichterung, Unterschlupf zu finden bei den Freunden in München, wie auch diese Passage aus Hermann Lenzʼ Roman Herbstlicht (1992) verdeutlicht, in der er die Begebenheit verarbeitete. Die Figur Stephan Koval weist unübersehbar Parallelen zu Peter Handke auf, wie etwa die folgende Stelle zeigt, in der Kovals Ankunft in München geschildert wird: "Es kam dann Stephan Koval aus Amerika zurück. Der schleppte einen schweren Koffer und erzählte von den Herren hinter der Theke des Hochhaus-Hotels dort beim Großen Park in New York. Die hatten sich gewundert, als er gesagt hatte, er wolle ein lautes Zimmer haben, bitte so laut wie möglich. 'Ich kam vom Norden, ganz hoch droben in Alaska. Dort war ich allein. Ich hab mir vorher nicht vorstellen können, wie allein man sein kann.' Stephan lehnte am Türpfosten und fügte hinzu: 'Ich habe kein Gefühl mehr für mein Buch.' Er sah ermattet aus und sagte, wohin er gehen solle, das wisse er nicht. Die Wohnung in Paris hatte er aufgegeben, seine Tochter war in Berlin ‚bei ihrer Mutter' (so nannte er seine Frau). Er kam Eugen verstört vor. In Amerika hatte ihn Einsamkeit ratlos gemacht, weil er das Gefühl hatte, es hätte keinen Sinn mit seiner Arbeit weiterzumachen; es sei so gut wie alles sinnlos. Wenn ihm sein Buch mißglückte, hatte er keine Berechtigung zu leben. Verachtend schaute er sich selber zu. Nur die Zeit der Arbeit zählte, ohne sie war er nichtswürdig, ein Herumtreiber. Er stand mitten im Zimmer, schaute auf den Boden, neben sich einen dunkelroten Koffer aus dünnem Kunststoff, der zu platzen schien. – ‚Ich weiß nicht, wohin ... ', sagte er, und seine Lippen zuckten. ‚Bleib doch hier. So lange du willst, kannst du hier wohnen. Bei uns ist Platz.' Nun lebte er auf. Es schien, als würde er verwandelt, weil ihm ein rettendes Geschenk zuteil geworden war. (Lenz 1992, S. 183f.).
Die Möglichkeit, bei den Freunden in München unterzukommen, belebte auch die Arbeit an seiner Erzählung: Am 6. Jänner 1979 beendete Handke die erste Textfassung der Langsamen Heimkehr (noch unter dem Titel "Die Vorzeitformen" (vgl. Pektor a); einen Tag später begann er bei Hanne und Hermann Lenz mit der Niederschrift einer weiteren Fassung (unter dem Titel "Das Raumverbot", vgl. Pektor b): "Das Typoskript der zweiten Textfassung enthält keine Datierungen. Es muss aber in der Zeit zwischen dem 7. Jänner 1979 (dem Tag nach Fertigstellung der ersten Fassung) und dem 29. Jänner 1979 entstanden sein" (ebd.) – nach Abschluss dieser Fassung notierte Handke in sein Notizbuch: "HALLELUJAH! 29. Januar/ 15h" (ES. 135). Die Notizen in NB 018 ermöglichen textgenetische Analysen, es lassen sich an ihnen Schreib- und Überarbeitungsprozesse nachverfolgen. So lautet etwa die erste eingetragene Notiz unter dem Datum des 29. Jänner: "Entschwebendes Gesicht, bunte Grimasse: / die Steine zu meinen Füßen bringen dich wieder näher. / Mich in sie vertiefend / beschwere ich uns mit ihnen / Nie wieder will ich Masken sehen. // [Ende]" (ES. 134). Es handelt sich um den Entwurf des Schlusses von Langsame Heimkehr. Die letzten Zeilen der Erzählung werden schließlich lauten: "Entschwebendes Gesicht! / Die Steine zu meinen Füßen bringen dich näher: / Mich in sie vertiefend, / beschwere ich uns mit ihnen." (LH, S. 210).
Wie neuartig, überraschend und unerhört seine Schreibweise ihm selber vorkam, geht aus dem Begleitbrief hervor, den Handke dem Typoskript beilegte, das er am 30. Jänner an seinen Verleger Unseld nach Frankfurt sandte: "Ich weiß schon ungefähr, was ich geschrieben habe. Bitte, lasse es niemanden sonst lesen, und, bitte, sprich mit niemanden darüber." (Handke / Unseld 2012, S. 354). Nimmt man die Anzahl der unter einem Datum eingetragenen Notizen als Gradmesser für den Zustand der Erschöpfung (oder Erleichterung), so ist der 30. Jänner signifikant, finden sich dort doch lediglich drei sehr kurze Einträge (vgl. ES. 135). Handke macht indessen nur eine kleine Schreibpause; bereits am darauffolgenden Tag drehen sich seine Notizen wieder ganz und gar um die Erzählung; es finden sich in der Folge viele Einträge mit dem Zusatz "einfügen" (ein erster solcher Vermerk steht bereits auf ES. 92). Die Tatsache, dass er das Manuskript soeben an Unseld verschickt hat, hält Handke nicht davon ab, unermüdlich weiter an Langsame Heimkehr zu arbeiten.
Neben den Notizen zu dieser Erzählung enthält NB 018 außerdem erste Anhaltspunkte zum Entstehungskontext des poetologischen Essays Die Lehre der Sainte-Victoire (1980). Zwar findet noch "keine konkrete Auseinandersetzung mit dem Werkprojekt" statt, einzelne Notizen weisen jedoch inhaltlich auf den Essay voraus: "Nicht nur Handkes zahlreiche Bildbeschreibungen aus den Museen in New York, Madrid, Paris, Venedig und München deuten in der Nachbetrachtung auf die Bedeutung der bildenden Kunst für Die Lehre der Sainte-Victoire hin, auch kleinere Nebenbemerkungen werden in der Erzählung konkret" (Kepplinger-Prinz). Domenica Kaesdorf, bei der Handke Ende Dezember wohnte, als er sich in Paris aufhielt, war Handkes Vorbild für die Figur der "D." im Essay. Dem Ehepaar Lenz erweist Handke seine Reverenz mit der Widmung, die er der Lehre der Sainte-Victoire voranstellte: "für Hermann und Hanne Lenz, zum Dank für den Januar 1979".
Zeichnungen
Das Notizbuch beinhaltet Zeichnungen mit Details von Bildern, die während Peter Handkes Museumsbesuchen entstanden sind: Die Augenpartie eines "Christus mit Dornenkrone" (Z01/NB 018, ES. 3), Details (Beine und Mundpartie) aus dem Gemälde Pablo de Valladolid von Velasquez (Z07/NB 018, ES. 54) und eine Linie, die die signifikante Umrissform des Bildes Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden nachzeichnet (Z06/NB 018, ES. 50). Handke hält außerdem mehrere architektonische Ansichten fest, etwa einen Dachreiter mit Kreuz (Z04/NB 018, ES. 25), eine Sicht im Central Park mit einem Fluss und einem zweitürmigen Gebäude sowie die Lobby des Luxushotels in Madrid ("Palace Hotel"), in dem er während seines dortigen Aufenthalts gewohnt hat (Z08/NB 018, ES. 57). Auf ES. 81 zeichnet er einen Treppenaufgang mit einer Nische darunter (Z10/NB 018), wobei er das Bild anstelle des Begriffs in den Text einfügt.
(Anna Estermann)
Literaturverzeichnis
Handke / Lenz 2006 = Handke, Peter / Lenz, Hermann: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Hg. und mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Mit einem Essay von Peter Hamm. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2006.
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Die Vorzeitformen. Notizbuch, 144 Seiten, 27.11.1978 bis 11.02.1979 [Die Lehre der Sainte-Victoire: Verwendete Notizbücher]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1757. Online abgerufen: 09.05.2024.
Lenz, Hermann: Herbstlicht. Roman. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1992.
Pektor a = Pektor, Katharina: Die Vorzeitformen (Textfassung 1). Typoskript 1-zeilig, 52 Blatt, [14.10.1978 bis] 06.01.1979 [Langsame Heimkehr: Verwendete Notizbücher]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/835. Online abgerufen: 09.05.2024.
Pektor b = Pektor, Katharina: Das Raumverbot (Textfassung 2a). Typoskript 2-zeilig, mit hs. Korrekturen von Peter Handke und hs. Markierungen von Siegfried Unseld, 158 Blatt, ohne Datum [07.01.1979 bis 29.01.1979]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/839. Online abgerufen: 09.05.2024.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554612 ]
Material: Notizbuch (Marke nicht identifiziert), liniert, Fadenheftung
Format: 14,8 x 9 cm
Umschlag: Brauner Kartonumschlag mit schwarzem Leinenbuchrücken, Vorderseite: aufgeklebtes Foto
Umfang: 144 Seiten, 154 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: 1-144
Verwendete Schreibstoffe: Fineliner (rot, grün, orange, türkis, rosa), Kugelschreiber (blau, schwarz)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Auf der Innenseite des vorderen Umschlags befindet sich Text, der aufgrund der Ununterscheidbarkeit von Stiftfarbe und der Farbe des Umschlags kaum bzw. nicht mehr lesbar ist.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/331
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126
Aber war das Hochfahrende nicht
auch wirklich gewesen? (Ende)
Tragischer Verzicht, in dem S. auch
Gefallen an sich findet: das war
er, zu Recht
S. sieht sogar
E .'s Augenfarbe, als Ding,
(was ihm sonst selten bei Männern
passiert): die Farbe lebt
Tragisches Gefühl; langsame
Raumdurchdringung: die
Materie wurde wirklich
(in der
Form!); got. Bogen
S. fühlt zuletzt doch ewige
Treue
zu E. (auch wenn er ihn nie mehr
sehen wird) → trotz "Feindschaft"
statt "Gott "
: "Gewalt"
lebendige Stille, in der E. sich die Arme
reibt: die Todesangst schwirrt weg
das arme Geschöpf Sorger überflog
ein Hauch der Schöpfung, ein Schauer
der Schöpfung (Sad Lisa )
[Ende] mit E. an der Straßenecke
(oder er erwacht mit dem Schauer der
Schöpfung, des ersten Schöpfungstages)
kurz vor E. : das wirdein Feind!
das
mit dem schönen Schimmern der
elektrischen Geräte
Er kann die WIEDERHOLUNG gar nicht
erwarten
Zum letzten Mal hat E. seine Schuhe an
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Tragisches Gefühl; langsame
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Materie wurde wirklich
(in der
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S. fühlt zuletzt doch ewige
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sehen wird) → trotz "Feindschaft"
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reibt: die Todesangst schwirrt weg
das arme Geschöpf Sorger überflog
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[Ende] mit E. an der Straßenecke
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Schöpfung, des ersten Schöpfungstages)
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Handke, Peter: Notizbuch 27.11.1978-11.02.1979 (NB018). Hg. von
. In:
Ders.: Notizbücher. Digitale Edition. Hg. von Katharina Pektor, Ulrich von Bülow und Bernhard Fetz. Deutsches Literaturarchiv Marbach und Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Release
14.06.2024.
Seite 128.
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Ioannis Fykias (Altgriechisch), Ana Grigalashvili (Georgisch), Angelika Kolesnikow (Russisch), Anna Montané Forasté (Spanisch), Helmut Moysich (Italienisch, Französisch), Martin Springinklee (Steno), Dominik Srienc (Slowenisch) und Dorothea Weber (Latein).
LizenzhinweisDistributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License (CC BY-NC-ND 4.0)
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