Zu Beginn des Aufzeichnungszeitraums von Notizbuch 09.07.1979-06.11.1979 (NB 021) befand sich Handke in Straßburg. Es war die letzte Station einer längeren Reise, zu der er rund vier Wochen zuvor aufgebrochen war (vgl. NB 020). Nach einer Wanderung in den Vogesen und einem kurzen Aufenthalt in Basel kehrte Handke zu seiner Tochter Amina nach Berlin zurück, die sich zu dieser Zeit bei ihrer Mutter Libgart Schwarz aufhielt. Ende Juli war Handke in Kronberg und Königstein im Taunus und reiste von dort über München nach Salzburg, wohin er mit seiner Tochter Ende August übersiedeln wollte. Vor dem Umzug besuchte er mit Amina noch einmal für ein paar Tage Paris und fuhr dann in den Lungau auf den Standlhof seines Salzburger Verlegers Wolfgang Schaffler. Nach einem Aufenthalt in Kärnten reiste Handke schließlich nach Salzburg, um die Wohnung am Mönchsberg zu beziehen. Ende September folgte ein weiterer kurzer Aufenthalt in Berlin; Anfang Oktober wurde Handke in Klosterneuburg der Franz-Kafka-Preis verliehen.
Material
Das Notizbuch (Format 13,9 x 8,5 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Der Umschlag ist zweifarbig: Die Vorderseite ist gräulich mit einem leichten Gelbstich, die Rückseite ist blau; der Buchrücken ist aus schwarzem gewachstem Leinen. Das Notizbuch mit Fadenheftung hat einen Umfang von 196 karierten und eh. paginierten Seiten. Auf den ersten beiden Blättern des vorderen Vorsatzes notierte Handke diverse Lektürezitate, auf dem dritten Blatt vermerkte er als Kontaktadresse jene von Libgart Schwarz in Berlin; auf dem Vorsatz stehen außerdem zwei Titel(-Entwürfe) sowie eine lange Liste mit den von Handke bereisten Orten. Auf dem hinteren Vorsatz sind Lektürezitate notiert, auf dem ersten Vorsatzblatt außerdem eine Reihe von Notizen. Auf die beiden letzten Vorsatzblätter schrieb Handke hauptsächlich diverse Namen, Adressen und Telefonnummern. Das Originalnotizbuch enthält als Beilage einen Zeitungsausschnitt mit dem Artikel "Der Sternenhimmel im August" (B02/NB 021).
Aufenthaltsorte
Die Einträge in NB 021 entstanden "in den letzten Monaten von Peter Handkes 'kleiner Weltreise', einem mit seiner Arbeit an Langsame Heimkehr im Sommer 1978 begonnenem Jahr des Unterwegsseins, das mit dem Umzug nach Salzburg am 29. August 1979 endete." (Pektor d). Die Aufzeichnungen am Ende von NB 020 lassen darauf schließen, dass sich Peter Handke am 8. Juli in München aufhielt (vgl. NB 020, ES. 137). Von dort muss er nach Straßburg weitergereist sein. Die Notizen unter dem Datum des 9. Juli, dem ersten eingetragenen Schreibdatum im vorliegenden Notizbuch, machte Handke im Frauenhausmuseum und im Musée des Beaux Arts in Straßburg (ES. 2-11). Von dort brach er zu einer Wanderung in die Vogesen auf: Am 11. Juli war er zunächst in Ammerschwihr und dann in Colmar, wo er das Musée Unterlinden besuchte. Von Colmar aus ging es weiter nach Murbach und zur Besichtigung der gleichnamigen Abtei, von wo er am 12. Juli eine Ansichtskarte der Abteikirche an Nicolas Born schickte: "Ich sitze in einer seltsamen romanischen Kirche in den Vogesen und bin dabei, auf die höchste Erhebung hier zu steigen, die 'Grand Ballon' heißt." (Born / Handke 2005, S. 31). Ein Eintrag vom selben Tag beschreibt wahrscheinlich Handkes Erlebnis am Gipfel des nur rund 1400m hohen Berges: "Ich halte mich am Gipfel fest, so stark ist der Wind (das Zungenherausstrecken im Wolkennebel, schön, dumm und wild)" (ES. 24). Er folgte danach wahrscheinlich der Vogesenkammstraße (Route de Crêtes) und besuchte den Soldatenfriedhof am Hartmannswillerkopf (Vieil Armand, vgl. ES. 25).
Handkes nächste Station war Basel, wo am 13. Juli eine Reihe von Notizen mit Bildbeschreibungen im dortigen Kunstmuseum entstand (ES. 26f.). Ein Eintrag vom 14. Juli (ES. 27: "Ein Tag unter den Dächern verschiedener Bahnhöfe") dürfte sich auf die Reise von Basel nach Berlin beziehen. Siegfried Unseld erwähnt am 19. Juli in seiner Chronik ein unangenehmes Telefonat mit Handke (er dürfte sich bei der Angabe der Tage jedoch geirrt haben) und geht nicht auf Handkes Wanderung in den Vogesen ein, sondern nur auf den Aufenthalt in Südfrankreich (vgl. NB 020): "Er ist zurück von seinen Wanderzügen in Südfrankreich, seit acht Tagen in Berlin." (Handke / Unseld 2012, S. 367). Während seiner Aufenthalte in Westberlin wohnte Handke mit seiner Tochter Amina bei deren Mutter Libgart Schwarz in der Ansbacherstraße in Schöneberg. Er dürfte dort viel zu Fuß unterwegs gewesen sein und notierte die Namen zahlreicher Straßen und Plätze (ES. 28-40), er besuchte außerdem zum wiederholten Mal die Nationalgalerie (ES. 29f.).
Am 25. Juli ist Handke in Kronberg und Königstein im Taunus (ES. 44); vermutlich am 26. Juli traf er im Königsteiner Restaurant Sonnenhof Siegfried Unseld – dieser berichtete von dem wenig erfreulichen Treffen in seiner Chronik (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 367). Nach einem Besuch in Schloßborn (ES. 47) reiste Handke am 28. Juli weiter nach München, am 30. Juli ging er vermutlich zu Fuß von Grafing bei München über Attel nach Wasserburg am Inn: "Ich flog ins Ziel (gestern nacht) (nach 30 km)" (ES. 53). Handke dürfte am 1. August mit dem Zug über Rott am Inn, Rosenheim und Antwort/Bad Endorf nach Prien am Chiemsee weitergereist sein. Am 2. August kam er in Salzburg an, wahrscheinlich um letzte Vorbereitungen für den bevorstehenden Umzug zu treffen (Handke bezog Ende August mit seiner Tochter eine Wohnung seiner Freunde Gerheid und Hans Widrich an der Salzburger Adresse Am Mönchsberg 17A). Am 8. August reiste Handke mit Amina über München (laut Ortsliste am Vorsatz) nach Paris (ES. 71), wo er noch einmal für einige Tage in die Stadt eintauchte, um Abschied zu nehmen (vgl. ES. 77: "Im Abschied nahm ich schon wieder nichts wahr, es brannte sich nur einiges ein"), wie die zahlreichen Nennungen von Straßen, Plätzen und Orten in Paris und Umgebung zeigen (ES. 71-80). Am 13. August schrieb Handke in einem Brief an Siegfried Unselds Sekretärin Burgl Zeeh aus Paris, er sei betroffen, von seinem Umzug in der Zeitung zu lesen; am liebsten würde er "hier" bleiben, wo ihn niemand kenne; ab 26. August sei er in der Wohnung an der Adresse Am Mönchsberg in Salzburg (Handke / Unseld 2012, S. 369, Anm. 1). Am 14. August flog Handke jedoch zunächst von Paris nach Zürich und reist von dort weiter nach Tamsweg auf den Standlhof seines Salzburger Verlegers Wolfgang Schaffler, um im Salzburgischen zu wandern (erwähnt wird u.a. der Rotgüldensee, die Grazer Hütte am Preber und St. Michael im Lungau). Spätestens am 21. August war er in Kärnten –ein Eintrag dieses Tates erwähnt das Schlosshotel Velden (ES. 91). Am 22. August dürfte er schließlich nach Klagenfurt gefahren sein, wo er vermutlich das Kärntner Landesmuseum besuchte; an den folgenden Tagen war er in Völkermarkt (23. August) sowie in Greutschach und in seinem Herkunftsort Griffen (24. August). Am 25. August fuhr Handke vermutlich nach Klagenfurt zurück und nahm am 27. August von dort den Zug nach Salzburg. Einen Tag zuvor war er noch in Oberhof/Metnitz (ES. 97), wo er die Pfarrkirche Hl. Nikolaus besuchte (ES. 99). Von 28. August bis 30. September dürfte er sich überwiegend in Salzburg aufgehalten haben; Mitte September begann der Unterricht an Aminas Schule. Von Salzburg aus unternahm Handke Ende September eine kurze Reise nach Berlin (vgl. ES. 150) und nach Klosterneuburg, wo er am 10. Oktober den neu gestifteten Kafka-Preis entgegennahm; auf seinen Aufenthalt in Klosterneuburg gibt es nur indirekte Hinweise im Notizbuch, etwa wenn am 10. Oktober eine Zugfahrt erwähnt wird (ES. 165), oder Handke am 14. Oktober notiert: "Vor drei Tagen hat Klosterneuburg geraucht (der stürmische Morgen)" (ES. 170).
Themen
In den Aufzeichnungszeitraum von NB 021 fällt das Erscheinen der Erzählung Langsame Heimkehr am 7. September 1979. Während der Wochen vor und nach dem Erscheinungstermin reflektierte er in verstärktem Maße seine Schreibbiographie, den zentralen Stellenwert, der Langsame Heimkehr darin zukam, und die existentiell bedeutsamen Schreiberfahrungen mit dem Text, etwa in Notizen wie den folgenden: "Jeden Tag erscheint mir doch die Notwendigkeit von L.H." (ES. 93), oder: "Mein Selbstbewußtsein dieser Jahre (vor dem Schreiben von L.H.) kam daher, daß ich überzeugt war, zur kosmischen Dimension fähig zu sein; dabei wußte ich nicht, daß diese beim Schreiben, in der Erzählung, nur sporadisch möglich ist; das wurde meine Fast-Katastrophe ('Über Räume')" (ES. 79f.); "[u]nd auf einmal setzten die kleinen, langsam treibenden Wolken im Herbstazur die Vieleckform fort (die Wäschekluppen als versammelte Vögel): Die Himmelsstromlandschaft (natürlich verlangt die L. H. nach einer Fortsetzung)" (ES: 127); "[e]s gibt meinen Weg" (ebd.); "[d]ie L. H. hat mir einige unverrückbare Glaubensgewißheiten gegeben" (ES. 128); "Anschauung, Reflexion und Grammatik in einem: lateinische Sätze (L.H.)" (ES. 156); "[m]eine Sprache strahlt so 'ehern', weil sie der Triumph über Sprachlosigkeit ist (sie ist meine Sprache, nicht verfügbar im voraus)" (ebd.); "[i]ch muß nur aufhören, mit dem Wahrnehmen zugleich schreiben zu wollen" (ES. 173).
Handke beschäftigten im Sommer und Herbst 1979 insbesondere Konzepte der Gattung, des Stils und der Ästhetik – in vielen Notizen greift er die Begriffe "Epos" bzw. "das Epische", "das Klassische" oder die "Schönheit" auf. Im Notizbuch blickte Handke auf seine Arbeit an Langsame Heimkehr zurück und skizzierte nun die poetologischen Ansprüche an sein Werk, die sich für ihn aus dieser Erfahrung ergeben hatten. In der Rede zur Verleihung des Kafka-Preises formulierte er diese Ansprüche aus und proklamierte sein Streben nach dem "Klassischen" und der "Schönheit" (vgl. dazu auch Pektor d).
Das Erscheinen von Langsame Heimkehr im September markierte das Ende eines langen, teils kräftezehrenden, jedenfalls schwierigen Prozesses; der offizielle Abschluss dieser Phase in Handkes Schreibbiographie scheint nicht nur Gelassenheit und ruhige Selbstsicherheit mit sich gebracht zu haben, sondern beförderte vor allem auch die Arbeit an neuen Schreibprojekten und setzte mit einem Schwung eine Zeit der ungeheuren Produktivität in Gang. Damit einher ging eine inhaltliche Neuausrichtung in Handkes Beziehung zu seiner Vergangenheit und seiner Herkunftsfamilie. In den vorangegangenen Notizbüchern hatten, wie die Notizen zeigen, meist "Schrecken" und "Angst" dominiert, wenn Handke in den "Sog der Herkunft" geriet. Nun begann er damit, die "Vorfahren" in ein neues, besseres Licht zu rücken und an einer ‚Neuerfindung‘ der eigenen Geschichte zu arbeiten: "Ich sah mir in die Augen und bat um den Traum von meinen Vorfahren (Erneuerungstraum)" (ES. 111). Vor allem Gregor Siutz, sein Großvater mütterlicherseits beschäftigte Handke; in vielen Einträgen bezieht er sich auf ihn, etwa wenn er schreibt: "Tatsächlich schaute mir momentlang im Spiegel der Großvater entgegen; habe ich nicht auch etwas von seinem immer etwas eingefallenen Oberkörper? Und ich dachte: Ich verdanke meiner Epoche viel; ohne sie würde ich wohl nicht mehr leben; sie läßt mich das tun, was ich kann, und was nur ich kann; und ich will denen, die für den Fortschritt gearbeitet haben, der es jemandem wie mir erst ermöglichte, aus der Milieubeschränkung herauszukommen, mit meinen Taten dankbar sein" (ES. 112). Unzählige Einträge können direkt oder indirekt mit Handkes Erzählung Die Wiederholung (1986) in Verbindung gebracht werden: "Meine Geschichte, mit der der Vorfahren verknüpfend: 'Die Wiederholung': wie unerhört anders meine Geschichte ist, und doch gleich" (ES. 144).
Lektüren
Die Aufzeichnungen in NB 021 setzen mit Beschreibungen von (mittelalterlichen) Kunstwerken ein, die Handke in diversen Museen im Elsass und während seiner Wanderungen in den Vogesen sah. Im Kunstmuseum in Basel – seiner nächsten Reisestation – betrachtete Handke vor allem Bilder von Cézanne, auf die er in den Notizen eingeht. Auf dem vorderen Vorsatzblatt notierte er mehrere Strophen aus Goethes Zueignung (ES. 2) und auf Griechisch ein Zitat von Hippokrates, das er fälschlicherweise Demokrit zuschrieb, darunter fügte er vermutlich seine eigene Übersetzung an: "die heilig seienden Werke werden nur heiligen Menschen gezeigt, den Uneingeweihten ist es verboten, bevor sie nicht durch erkennende Orgien gereinigt worden sind" (ES. 3) Handke wird den Satz in Die Lehre der Sainte-Victoire verkürzt im Kapitel "Der Sprung des Wolfs" als "Wort des Philosophen" zitieren (DLS, S. 62, vgl. Kepplinger-Prinz). Das vorliegende Notizbuch enthält außerdem Stellen aus Nietzsches Morgenröte, aus Romanen von Emmanuel Bove (La Mort de Dinah, Un Raskolnikoff), aus Briefen und Gedichten Hölderlins und aus Goethes Tagebüchern. Von Goethe las Handke im Aufzeichnungszeitraum auch Wilhelm Meisters Wanderjahre, Iphigenie auf Tauris und den West-Östlichen Divan. Er studierte eine von Wilhelm Capelle herausgegebene Anthologie mit Fragmenten der Vorsokratiker (Zitate daraus durchziehen das gesamte Notizbuch) und notierte sich Zitate aus Gottfried Benns Briefen an Wilhelm Oelze. Er interessierte sich für die Geomorphologie und Urgeschichte Kärntens und Salzburgs und las geologische Abhandlungen. Ende August übersiedelte er mit seiner Tochter nach Salzburg; er besuchte dort Salzburger Kirchen, darunter die Franziskanerkirche, auf deren Hochaltar eine Madonnenfigur von Michael Pacher aus der Zeit vor seiner Neugestaltung durch Johann Bernhard Fischer von Erlach Anfang des 18. Jahrhunderts erhalten ist – auf diese Statue bezieht sich Handke in mehreren Einträgen. Im Oktober 1979 wurde ihm in Klosterneuburg der Franz-Kafka-Preis verliehen; das Notizbuch beinhaltet keine Lektürezitate von Kafka, jedoch machte sich Handke in Vorbereitung auf seine Preisrede (in der er schließlich auf Kafka nur am Rande einging und stattdessen seinen Anspruch auf das "Klassische" formulierte) immer wieder Notizen zu Kafkas Werk. Die Hälfte des Preisgeldes überließ er dem Schweizer Autor Gerhard Meier; nach der Preisverleihung am 10. Oktober las er dessen Roman Toteninsel, wie Lektürenotizen im Notizbuch belegen.
Schreibprojekte
Der Publikation von Langsame Heimkehr am 6. September 1979 war ein schwieriger und stressiger Produktionsprozess vorangegangen, hatte Handke doch bis zuletzt Korrekturen und Änderungen am Text vorgenommen – eine große Herausforderung für das Lektorat und den Setzer. Aufgrund des starken Zeitdrucks, unter dem die Herstellung des Buches erfolgte, wurde das Vorhaben, ein Leseexemplar für Kritiker*innen zu drucken, Ende Juni aufgegeben. Handke reagierte nicht gut auf die Nachricht, wie Unseld in seiner Chronik festhielt: "Da wurde er ganz explosiv. Der Zwang, Leseexemplare zu machen, habe ihn bei den Korrekturen in eine 'Panik' versetzt. 'Panik, verstehst du', sagte er, 'in Panik habe ich die Korrekturen gemacht.' Die Entscheidung, ein Leseexemplar nicht zu machen, kommentierte er als üble 'Machenschaften' des Verlages. Er wollte ja nie ein Leseexemplar, die Leute sollen das wirkliche Buch lesen, aber wir hätten ihn [sic] mit dem Termin des Leseexemplars gedroht, gezwungen, erpreßt." (Handke / Unseld 2012, S. 367). In einigen Notizen, in denen Unseld als "S." genannt wird, hat dieser Konflikt Spuren hinterlassen (vgl. ES. 37 und ES. 45).
Handke maß Langsame Heimkehr eine existentielle Bedeutung zu. Für ihn markierte sie eine 'Verwandlung' seines bisherigen Schreibens und seiner Existenz als Autor. Sein Verhältnis zu dieser Erzählung schwankte im Aufzeichnungszeitraum von NB 021 zwischen Stolz (vermischt mit der Gewissheit, Großes geleistet zu haben) und einer nervösen Unruhe und ängstlichen Unsicherheit. In seinen Notizen zur Erzählung agierte er diese spannungsvolle Ambivalenz aus, wobei die stolze Gewissheit schließlich doch überwog: "L.H.: Ich möchte, daß niemand mir etwas dazu sagt, möchte nur, daß das Buch schweigend gelesen wird" (ES. 64); "L.H.: Mit einer großen, einfachen Geste habe ich mich ins Recht gesetzt (und bin doch an dieser Geste fast zugrundegegangen) [?]" (ES. 66); "L.H.: manchmal Stolz eines Weltschöpfers (nein, es ist kein Hochmut) [als hätte ich die Urworte wiedergefunden]" (ES. 69); "[d]ie L. H. besteht wirklich vor allem aus Eingebungen (und ich glaube auch daran)" (ES. 118). Und auch in Gedanken an seine kommenden Schreibvorhaben kommt Handke auf Langsame Heimkehr zurück: "Episch hieße: immer wieder innehalten, und harmonisch retardieren (das habe ich bei L.H. noch nicht recht gekonnt)" (ES. 56).
Am 7. September reiste Siegfried Unseld persönlich mit einigen Exemplaren des frisch gedruckten Buches im Gepäck nach Salzburg, und berichtete danach in seiner Chronik von einem gemeinsamen Tag in Fuschl (Handke / Unseld 2012, S. 370, Anm. 1), Handke notierte unter dem Datum des 7. September: "Habe ich heute vor Glück wirklich nichts wahrnehmen können? (→ Fuschl) [dabei doch der Gedanke, bei L. H. versagt zu haben]; helle Zukunft" (ES. 109). Drei Tage nach dem Treffen in Salzburg schickte Handke das Buch an Unseld zurück; er hatte darin die zahlreichen mitunter sinnentstellenden Fehler annotiert und gibt im Brief an Unseld seiner Enttäuschung Ausdruck: "[S]o erhaben sozusagen auch mein Gefühl über die Tatsache des Buches ist, und so dankbar ich Dir für den menschenwürdigen Tag in Salzburg und am See bin, so grausam kommen mir doch die – ja, vielen Druckfehler vor, die ich bei der Lektüre nicht übersehen konnte. Es sind vor allem auch mehrere sinnstörende und sogar -fälschende darunter, deren Entstehung ich mir nicht erklären kann. (So sehr ich auch sonst bereit wäre, eine Mitverantwortung zu übernehmen.) Nun hilft aber kein Lamentieren mehr, die Bücher sind ja gedruckt." (Handke / Unseld 2012, S. 369, vgl. Pektor a). Auf Handkes Anregung hin (und seinen Anweisungen folgend) druckte der Verlag eine Errata-Liste, die den bereits gedruckten Büchern, die noch nicht ausgeliefert waren, beigelegt wurde (vgl. Pektor b). Eine solche Liste klebte Handke in sein Notizbuch (M01/NB 021, ES. 195).
Auf dem vorderen Vorsatz von NB 021 sind drei Titel von Schreibprojekten notiert, denen Handke das Notizbuch zuordnete: "Die Wiederholung", "Kindergeschichte" und "Dramatisches Gedicht" – gemeint ist das Drama Über die Dörfer (ES. 4). Den ersten Titel strich er durch, obwohl er sehr viele der Notizen explizit der Erzählung Die Wiederholung zuordnete. Nicht erwähnt wird dagegen der Titel "Die Lehre der Sainte-Victoire", der jedoch im Inneren des Notizbuchs – zum ersten Mal – genannt wird (vgl. ES. 161). Diese Schreibvorhaben – Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Über die Dörfer (1981) und Kindergeschichte (1981) bilden gemeinsam mit Langsame Heimkehr (1979) eine thematisch lose verbundene Tetralogie, die aus dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" hervorging. Zu allen drei damals noch in Arbeit befindlichen Texten machte Handke zum Teil sehr konkrete Notizen in NB 021, etwa in Bezug auf die Rede der Nova in Über die Dörfer, für die er wichtige Impulse von Goethes Drama Iphigenie auf Tauris erhalten hat, das er in der zweiten Augusthälfte 1979 las: "Ein Drama wäre wieder möglich, wenn ich einen Gott ansprechen könnte, wie Iphigenie Diana" (ES. 88). In zwei anderen Einträgen geht er auf die Szene ein: "'Schämt euch!' (Rede an die Menschheit – 'Dramatisches Gedicht')" (ES. 149) und: "Die Technik, die Gegenstände der Chemie – sind nicht; die Produkte der Industrie sind nicht, der Aluminiumkoffer ist nicht, die Fußgängerzonen sind nicht (→ Dramatisches Gedicht); allmählich zur Beschwörung und zur Litanei fähig werden!! Sie sind nicht denkbar, sie sind kein Gegenüber – sie sind wie Pistolen und Pistolentaschen (– Madrid, letzter Dezember!); ja ich bedrohe euch in eurer Existenz, Nicht-Existierende! (Dramat. Gedicht)" (ES. 166).
Handke arbeitete im Aufzeichnungszeitraum an seiner Übersetzung von Walker Percys Moviegoer. Einen wichtigen Stellenwert in der Entwicklung seiner Poetik dieser Jahre hat die Rede zur Verleihung des Kafka-Preises, der ihm im Herbst 1979 in Klosterneuburg verliehen wurde. Der Begriff des Klassischen spielt dabei eine wichtige Rolle, wie etwa aus den folgenden Einträgen deutlich wird: "Und natürlich bin ich auf Klassisches aus" (ES. 68) und "Klassik: Keine Verkleidung, sondern stete Verwandlung ins Unverkleidete" (ES. 134). Handkes Preisrede erschien am 12. Oktober 1979 in der Tageszeitung Die Presse.
Handkes Notizen in der zweiten Hälfte des Notizbuchs, die nach seinem Umzug nach Salzburg entstanden, sind zudem "hinsichtlich der Entstehung der Erzählung Der Chinese des Schmerzes interessant, da sie Erlebnisse oder Beobachtungen beschreiben, die als Motive in der Erzählung wiederkehren oder vielleicht sogar die Initialzündung für seine 'Salzburggeschichte' gaben." (Pektor d; vgl. dort die sehr ausführliche Darstellung der Werkbezüge in NB 021).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält sieben Zeichnungen, darunter Verbotsschilder, Piktogramme und Ampelmännchen, deren Urheber*in nicht identifiziert werden kann. Von Handke stammen drei der Zeichnungen: Die zwei Hauptsternbilder des Sommers (Z04/NB 021), zwei Linien, die bei der Betrachtung einer Madonnenstatue, vermutlich jener von Michael Pacher in der Salzburger Franziskanerkirche, entstanden sind (Z05/NB 021) sowie ein Ast, der in die Zeile eingefügt ist (Z6/NB 021).
(Anna Estermann)
Literaturverzeichnis
Born / Handke 2005 = Born, Nicolas / Handke, Peter: Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974-1979. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Hg. von Norbert Wehr. Essen: Rigodon, Nr. 65 (2005), S. 3-34.
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Handke, Peter: "Rede zur Verleihung des Franz Kafka-Preises", in: Die Presse, 12. Oktober 1979, wiederabgedruckt in ders.: Das Ende des Flanierens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 (= st 679), S. 156-159.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Kindergeschichte; Dramatisches Gedicht. Notizbuch, 196 Seiten, 09.07.1979 bis 06.11.1979. Verwendete Notizbücher [DLS]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1359. Online abgerufen: 14.03.2024.
Pektor a = Pektor, Katharina: Langsame Heimkehr. Erzählung. Buch, Korrekturexemplar von Peter Handke, 211 Seiten, ohne Datum [07.09.1979 bis 10.09.1979]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/853. Online abgerufen: 14.03.2024.
Pektor b = Pektor, Katharina: Konvolut aus Korrekturlisten (zum Korrekturexemplar). Manuskript und Typoskript, von Peter Handke und Elisabeth Borchers, 5 Blatt, [07.09.1979 bis] 18.09.1979. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/855. Online abgerufen: 14.03.2024.
Pektor c = Pektor, Katharina: Kindergeschichte; Dramatisches Gedicht. Notizbuch, 196 Seiten, 09.07.1979 bis 06.11.1979. Verwendete Notizbücher [Kg] . In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/986. Online abgerufen: 14.03.2024.
Pektor d = Pektor, Katharina: Kindergeschichte; Dramatisches Gedicht. Notizbuch, 196 Seiten, 09.07.1979 bis 06.11.1979. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/338. Online abgerufen: 10.06.2024.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554767 ]
Material: Notizbuch (Marke nicht identifiziert), kariert, Fadenheftung
Format: 13,9 x 8,5 cm
Umschlag: Zweifarbiger Umschlag: Vorderseite: gräulich mit leichtem Gelbstich, Rückseite: blau, Buchrücken aus schwarzem, gewachstem Leinen,
Umfang: 196 Seiten, 206 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I-III, 1-192, I*-III*
Verwendete Schreibstoffe: Fineliner (rot, grün, blau, violett, schwarz), Kugelschreiber (blau, rot), Bleistift, Filzstift (blau)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung:
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/338
Anzahl der erfassten Entitäten: 970
142
auch ihm Gestalt gegeben)
Um eine bessere Meinung von mir zu
haben, brauche ich natürlich einen
guten Gott ; ein guter Gott verlangt aber
von mir eine Moral
Das "Jetzt"
ist ein Beispiel ("Zum
Beispiel jetzt"
)
Zeugnis von mir abgeben, über das Zeit¬
genössische hinaus
Eine Zeitlang wußte ich nicht mehr, was
ich tat (Zeitungen; warum saß ich dabei
nicht wenigstens im Flugzeug?)
"die Bruchlast"
Störungen: sind auch Zeiten-Störungen (Verschiebungen) x
entlang der Linie: Kristallin: K. → K:
Sandstein (Trias ); K: Muschelkalk
"die begleitendenGranatglimmerschiefer "
Die Innenhand des schwerbepackten
Schulkindes; das sanfte Elend dort
drin
In der Störungszone ist das Gestein
völlig zermahlen
x (Mölltalstörung)
"Wir müssen versuchen, unsere Gedan¬
ken in den Bereich des Gigantischen zu
führen"
Der Großvater : Manchmal war er
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auch ihm Gestalt gegeben)
Um eine bessere Meinung von mir zu
haben, brauche ich natürlich einen
guten Gott ; ein guter Gott verlangt aber
von mir eine Moral
Das "Jetzt"
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Zeugnis von mir abgeben, über das Zeit¬
genössische hinaus
Eine Zeitlang wußte ich nicht mehr, was
ich tat (Zeitungen; warum saß ich dabei
nicht wenigstens im Flugzeug?)
"die Bruchlast"
Störungen: sind auch Zeiten-Störungen (Verschiebungen) x
entlang der Linie: Kristallin: K. → K:
Sandstein (Trias ); K: Muschelkalk
"die begleitendenGranatglimmerschiefer "
Die Innenhand des schwerbepackten
Schulkindes; das sanfte Elend dort
drin
In der Störungszone ist das Gestein
völlig zermahlen
x (Mölltalstörung)
"Wir müssen versuchen, unsere Gedan¬
ken in den Bereich des Gigantischen zu
führen"
Der Großvater : Manchmal war er
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Sehr wahrscheinlich | aus dem unmittelbaren Kontext erschließbar |
Wahrscheinlich | nur durch Kontextwissen und Recherche erschließbar |
Möglicherweise | es gibt mehrere Bedeutungsmöglichkeiten |
Nicht identifiziert | es gibt höchstens Vermutungen |
Handke, Peter: Notizbuch 09.07.1979-06.11.1979 (NB 021). Hg. von
. In:
Ders.: Notizbücher. Digitale Edition. Hg. von Katharina Pektor, Ulrich von Bülow und Bernhard Fetz. Deutsches Literaturarchiv Marbach und Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Release
14.06.2024.
Seite 146.
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Ioannis Fykias (Altgriechisch), Ana Grigalashvili (Georgisch), Angelika Kolesnikow (Russisch), Anna Montané Forasté (Spanisch), Helmut Moysich (Italienisch, Französisch), Martin Springinklee (Steno), Dominik Srienc (Slowenisch) und Dorothea Weber (Latein).
LizenzhinweisDistributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License (CC BY-NC-ND 4.0)
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