Im Aufzeichnungszeitraum von Notizbuch 23.05.1977-14.10.1977 (NB 012) hielt sich Peter Handke zunächst an seinem Wohnort in Clamart bei Paris auf. Anfang Juni nahm er an der Verleihung des Petrarca-Preises in Verona teil. Ende Juni brachte er seine Tochter Amina nach Kärnten, wo sie den Sommer mit ihrer Mutter Libgart Schwarz verbringen sollte. Anfang Juli reiste Handke nach Anchorage, wo er seinen Reisegefährten Friedhelm C. Maye traf. Diese erste von insgesamt drei Reisen nach Alaska hat deutliche Spuren in der Erzählung Langsame Heimkehr hinterlassen. Im August hielt sich Handke in München auf, um seinen Film Die linkshändige Frau zu schneiden – in diesen Wochen machte er kaum Notizen. Mitte September kehrte er schließlich nach Clamart zurück, wo er sich nach einer längeren Zeit des Unterwegsseins wieder auf das Schreiben konzentrieren wollte.
Material
Das Notizbuch der Marke Clairefontaine (Format 13,7 x 8 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Auf der Vorderseite des gelben Kartonumschlags in Leinenoptik klebt ein Bild, das ein von Bergen umgebenes Dorf zeigt; auf der Rückseite des Notizbuchs ist das Markenlogo zu sehen. Das Notizbuch mit braunem Leinenbuchrücken und Fadenheftung umfasst 190 karierte und eh. paginierte Seiten, wobei zwischen Editionsseite (ES.) 170 und 171 eine Seite herausgerissen worden sein dürfte; darauf deuten ein schmaler Papierreststreifen mit Risskante und die fehlende Paginierung auf ES. 171 hin. Auf den vorderen und hinteren Vorsatzblättern notierte Handke neben dem Entstehungszeitraum des Notizbuchs und seiner Kontaktadresse diverse Namen, Adressen und Telefonnummern (u.a. von Walter Greinert, dem befreundeten österreichischen Presseattaché, von seiner amerikanischen Lektorin Nancy Meiselas oder des Schauspielerehepaars Monika Becker und Otto Sander), die Titel verschiedener Volksmusikstücke (ES. 196ff.), aber auch literarische Notizen. Das Originalnotizbuch enthält als Beilage das Foto eines Säulenfreskos (B02/B012); die rechteckige Farbfotografie war ursprünglich nach ES. 88 eingelegt.
Aufenthaltsorte
Die Einträge im Aufzeichnungszeitraum von NB 012 sind nur sporadisch datiert. Auch Ortsnamen erwähnt Handke nur selten, seine Aufenthaltsorte lassen sich aber indirekt rekonstruieren. Mit Ausnahme eines kurzen Aufenthalts in Tusculum dürfte er sich bis Ende Juni durchgehend in Clamart bei Paris aufgehalten haben; die Einträge im ersten Viertel des Notizbuchs sind bis auf die Erwähnung des Pfingstsonntags, der 1977 auf den 29. Mai fiel, ohne Datierungen (vgl. ES. 15). Von 3. bis 4. Juni 1977 fand die Verleihung des Petrarca-Preises an Herbert Achternbusch in Tusculum statt. Die skandalträchtige Veranstaltung – der Geehrte zerstörte u.a. einen Filmvorführapparat, bewarf die Jury mit Untertassen und verbrannte den Preisgeld-Scheck in der Höhe von DM 20.000, -, (vgl. dazu Michaelis) – hinterließ bis auf die Adressnotiz von Andreas Achternbusch, dem damals 13-jährigen Sohn von Herbert Achterbusch (ES. 18), keine Spuren in den Notizen. Möglicherweise hat Handke das Ehepaar Auer aus St. Moritz im Umfeld der Verleihung kennengelernt – darauf deuten ein weiterer Adresseintrag und ein Vermerk auf ES. 19 hin: "Fred und Heidi Auer freuen sich über Ihren Besuch."
Ende Juni reiste Handke nach Kärnten, um seine Tochter Amina zu ihrer Mutter Libgart Schwarz auf eine Alm zu bringen, wo sie den Sommer verbringen sollte (vgl. Handke / Lenz 2006, S. 115). Von Paris aus kündigte Handke Nicolas Born in einem Brief vom 27. Juni eine längere Abwesenheit an: "Ab übermorgen werde ich zwei Monate von hier weg sein" (Born / Handke 2005, S. 20). An Alfred Kolleritsch schrieb er am selben Tag, er werde am 4. Juli in Graz sein und hoffe, ihn dann zu sehen (Handke / Kolleritsch, S. 105). Ob Handke tatsächlich in Graz war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren; am 5. Juli besuchte er jedenfalls Siegfried Unseld in Frankfurt, von wo er am folgenden Tag nach Alaska aufbrach (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 323, Anm. 2): "Handke flog am 6. Juli 1977 von Frankfurt am Main nach Anchorage, wo er Friedhelm C. Maye traf, einen seit den Dreharbeiten zum Fernsehfilm Chronik der laufenden Ereignisse mit Handke befreundeten Mitarbeiter des Westdeutschen Rundfunks, der ihm kurz zuvor bei der Regie von Die linkshändige Frau assistiert hatte." (Pektor). Am 17. Juli flog Handke von New York zurück nach Frankfurt (vgl. ebd.). Nach seiner Rückkehr aus den USA dürfte er sich zuerst in Kärnten (ES. 106ff.) und dann mit seiner Tochter Amina in Venedig aufgehalten haben (ES. 110f.), ehe er Ende Juli in München war (ES. 111).
Nicolas Born hatte er in dem bereits zitierten Brief vom 27. Juni mitgeteilt, er plane ab Mitte Juli in München zu sein, um am Schnitt seines Films Die linkshändige Frau zu arbeiten (Born / Handke 2005, S. 20). Am 7. August schreibt er aus München an Born: "Im Moment, im Schneideraum, mit dem lebenslustigen Cutter [...], haben wir uns eine ganze Batterie von Schnaps-, Wein- und anderen Vorräten aufgebaut, und zumindest ich bin dann am Abend jeweils ordentlich benommen.” (Born / Handke 2005, S. 21). Möglicherweise wohnte Handke in dieser Zeit bei Wim Wenders; es ist unklar, wie lange er in München blieb (er hat in dieser Zeit nur sehr sporadisch Notizen gemacht, wie die langen Abstände zwischen den Schreibdaten zeigen, vgl. ES. 115-117). Unselds Chronik ist zu entnehmen, dass Handke am 11. September in Frankfurt war, "um die Angelegenheit seines Hauses in Kronberg zu richten." (Handke / Unseld, S. 324, Anm. 1). Handke hatte bis 1973 in dem Haus gelebt, es aber wohl noch bis in die 1980er-Jahre behalten (vgl. Kepplinger-Prinz).
Seine Rückkehr nach Clamart Mitte September erwähnt Handke in Briefen an verschiedene Freunde: Am 17. September schrieb er an Alfred Kolleritsch: "seit zwei Tagen bin ich wieder hier zurück, und es ist doch eine Art Element, das mich schön umgibt, jedenfalls vorerst noch: das Licht von Stadt und Garten, das Haus selber, der Zug. Ich hoffe, wieder zum Nachdenken zu kommen, was jetzt fast drei Monate lang, wo man nur unterwegs war, schwerfiel." (Handke / Kolleritsch, S. 106). Nicolas Born erklärte er am 18. September, dass er in Clamart, allerdings nicht gänzlich "unabhängig" sei, da die Eigentümerfamilie ebenfalls im Haus wohne, so dass er "keinen Atem- und Denkraum finde – und dafür umso eifriger, im Hantieren mit Büchern und Kugelschreibern, einen solchen vortäusche" (Born / Handke 2005, S. 21). "[M]it den fremden Leuten im Haus" würden Handke und seine Tochter noch fast vier Wochen leben, wie er Born mitteilte (ebd., S. 22). Die zweite September- und die erste Oktoberhälfte dürfte Handke in Clamart verbracht haben. Am 5. Oktober schreibt er Born, er bleibe wohl bis Weihnachten "immer hier, höchstens ein Wochenende am Meer." (Born / Handke 2005, S. 23).
Themen
In den Aufzeichnungszeitraum von NB 012 fällt Handkes erste Reise nach Alaska, die er im Juli 1977 gemeinsam mit Friedhelm C. Maye unternahm. Auf ES. 85 notierte er: "Am Yukon (9. Juli 1977): das sanftere Rauschen des Windes in den weichen Blättern der Büsche". Es folgen rund zehn Seiten, auf denen er Eindrücke in Alaska festhielt – hauptsächlich sind es Beschreibungen des Yukon River. Nach einer längeren beschreibenden Sequenz notierte er eine poetologische Bemerkung die (Un-)mittelbarkeit der Niederschrift von Wahrnehmungen betreffend: "überlaß das der Erinnerung!, die macht es besser als die bloße Wahrnehmung, Hauptsache, du hast die Fassung, die Einheit" (ES. 93). Auf derselben Seite heißt es: "Aluminiumdächer; aber auch Hauswände aus A.; drei große Tanks vor dem T.P.; Basketnetz vor dem Geologiehaus (weiß): Holzstufen, Badekabinenbrett vor den Haustorstufen (→ Unfall)". Die Notiz bezieht sich auf den Autounfall, den Handke und Maye am Ende ihrer Reise hatten: Sie mussten deshalb "wieder nach Circle City zurück und wurden dann mit dem Postflugzeug nach Fairbanks gebracht." (Pektor a). Das "Geologiehaus" sollte zum Vorbild für jenes "Giebelholzhaus" (LH, S. 9) werden, in dem der Protagonist Sorger gemeinsam mit seinem Kollegen Lauffer in Langsame Heimkehr lebt; das Basketballnetz, die Holzstufen und der Badekabinenbrett-Fußabstreifer finden sich dort in der Beschreibung des Hauses wieder (vgl. LH, S. 50f. und 89). Waren in den früheren Notizbüchern bereits vereinzelte Belege für Handkes Interesse an der Geologie enthalten (vgl. seine Besichtigung eines kalifornischen "Erdbebeninstituts" in NB 005, ES. 31ff., ein einschlägiges Goethe-Zitat in NB W13, ES. 41f. sowie die Erwähnung von "Sorgers Holzhaus im Kiefernwald" auf der Fahrt von Denver nach Colorado Springs in NB 011, ES. 7), so gewinnt dieses Interesse nach seiner ersten Alaskareise mehr und mehr an Gewicht, wie entsprechende Aufzeichnungen in den nachfolgenden Notizbüchern belegen.
Sehr viele Notizen in NB 012 drehen sich um das Schreiben, genauer um das Problem der für Handke 'gültigen' Versprachlichung von Wahrnehmung, darauf deuten Einträge wie diese hin: "Die Ereignisse (z.B. das Sonnenlicht auf den Blättern, den blauen Himmel) nicht an die Sprache verraten: Kunst (warten, sich konzentrieren, sich gedulden, bis diese Ereignisse Sprache werden)" (ES. 11); "Als ob man schon, indem man 'Regenschwaden' denkt, den so schön dahinziehenden Regen verriete ('die Erscheinungen wie von den Wörtern abgegrast': die Wiese im Abendlicht) und doch der Schmerz, nichts sagen zu können)" (ES. 26f.). Handke räumt dem Gefühl einen herausragenden Stellenwert ein, wenn es darum geht, den Gegenständen schreibend gerecht zu werden, und bringt in diesem Zusammenhang gattungsspezifische Argumente ins Spiel: "'Beschreibbarkeit': Ein Gefühl verbindet sich (endlich) mit einem Gegenstand(e): Epik" (ES. 35f.). In zwei der folgenden Einträge bezeichnet er sein "Journal" dementsprechend als "[m]ein persönliches Epos" (ES. 39 und 44). In einer Reihe von Notizen, die während eines Aufenthalts in Kärnten entstanden sein dürften, scheint er diese 'epische' Dimension besonders emphatisch zu praktizieren. Es handelt sich um überlange Beschreibungssequenzen, die meist Naturerfahrungen festhalten (vgl. ES. 64ff. sowie ES. 71ff.).
In einer Notiz, die wohl Ende Juni entstanden ist, reflektierte Handke – gemessen an früheren Einträgen – vergleichsweise gelassen den Stellenwert der Angst in seinem Leben: "Hat mich der Monat ohne Angst wirklich frei gemacht für was anderes? (Ob nicht doch die Angst ein Lebensgrundelement ist für mich?)" (ES. 56), und auch das damals seit längerer Zeit allgegenwärtige Thema des Alleinseins beschäftigte ihn nach wie vor, indirekt etwa in einem Lektürenotat aus Cesare Paveses Tagebüchern: "'Die wahre, das heißt erlittene Einsamkeit bringt den Trieb mit sich, zu töten' (P.)" (ES. 116) oder in Notizen wie den folgenden: "Plötzlich merkte ich, daß ich im Lauf der Jahre tatsächlich ein Einzelgänger, ein Einsiedler (im Haus) geworden war; daß ich (bei mir) zu keiner Gesellschaft mehr fähig war (V.S.)" (ES. 143); "[s]o im Alleinsein beheimatet, daß ich erröte, wenn ich unvermutet jemanden treffe: als schämte ich mich vor dem andern, jetzt in Gesellschaft zu sein (?)" (ES. 163). Einschlägige Notizen am Beginn des Notizbuchs lassen jedoch eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit sich selbst erkennen, bzw. formulierte Handke den Wunsch, eine solche zu erlangen: "Im letzten Jahr: Ich brauche jetzt keine Rolle mehr zu spielen"; "[E]ndlich im Zustand der begnadeten Gleichgültigkeit (auch gegen mich selber)" (ES. 17); "Willenlosigkeit in der Depression, willenlos bis zur bloßen Gier (in jeder Hinsicht) ❬–❭ mein heißer schwerer Schamkopf in der Bedrücktheit (❬du❭, wieder einmal – Gleichgültigkeit gegen mich lernen)" (ES. 28f.).
Lektüren
Ende Juli las Handke Cesare Paveses Tagebücher aus den Jahren 1935-1950, die auf Deutsch unter dem Titel Das Handwerk des Lebens erschienen sind, und notierte sich einige Zitate daraus. Ab Anfang Oktober beschäftigte sich Handke ausführlicher mit Werken Christian Wagners. Er arbeitete an seinem Essay Im Jenseits der Sinne über den "Bauerndichter" Wagner, der am 6. Jänner 1978 in der Wochenzeitung Die Zeit erschien. Handke schätzte Wagners Gedichte, kritisierte jedoch dessen Prosa (die autobiographischen Skizzen in Eigenbrötler), in der es Wagner versäume, seinem Sujet Würde zu verleihen; er bringt in diesem Zusammenhang Gustave Courbets Realismus und damit die Malerei ins Spiel, um seinen Lektüreeindruck zu beschreiben, und gibt Courbets ästhetischem Zugang zur Sphäre des Bäuerlichen im 19. Jahrhundert den Vorzug gegenüber jenem von Wagner: "Christian Wagners 'Eigenbrötler': wo es sich zeigt, daß beim Schreiben die bloße Nachahmung mündlichen Erzählens eine Attitüde kalter Grausamkeit herstellt; dagegen die Bilder von Courbet mit so ähnlichen Themen (Heimkehr vom Wochenmarkt, Getreidesieben ...): die Leute kriegen ihre Würde durch ein anderes Darstellungssystem als das gewohnte: das in diesem Fall die flinke Bauernkalenderzeichnung wäre" (ES. 173).
Im Verlauf des gesamten Aufzeichnungszeitraums dürfte Handke Heimito von Doderers Roman Die Dämonen gelesen haben, wobei er nur wenige Zitate daraus notierte. Am 7. Juni 1977 schreibt er an Hermann Lenz, er fühle sich "heimisch" bei Doderers "Leuten, die ganz andere Geschichten haben als ich." (Handke / Lenz 2006, S. 112); in einem Brief an Nicolas Born vom 5. Oktober erzählt Handke: "Immerhin lese ich, oft mit stiller Verzückung, Die Dämonen von Doderer, und habe mich auch erfreut am Entweder-Oder von K." (Born / Handke 2005, S. 23). Kierkegaards Entweder – Oder las Handke ab Anfang Oktober, wobei der Einstieg nicht gerade vielversprechend gewesen sein dürfte, wie eine Notiz nahe legt: "Wenn ich als Leser gleich am Beginn eines Buches (z.B. Entweder – Oder) direkt angesprochen werde, verliere ich jede Fähigkeit zur Aufmerksamkeit, jede Möglichkeit, mir was vorzustellen – wenn noch dazu an mein eigenes Erleben ausdrücklich appelliert wird (ein bißchen wie in der Schule, wenn der Lehrer beim Vortragen einen persönlich anschaut)" (ES. 147). Handke reflektiert in der Folge, wie es ihm dementgegen als Leser möglich sei, sich auf philosophische Werke einzulassen: "Einzige Lesechance bei einem Philosophen: man muß sofort sich ganz mit ihm identifizieren, der Gegenstand seiner Sätze willentlich sein wollen, um mitzuspielen (E.-O.); die Sätze müßen, in der Vorstellung, alle von einem selber stammen, so daß man also Grund hat, an ihnen etwas zu finden; – an ihnen auch panisch etwas finden will" (ES. 159f.). Dennoch stelle sich "vom [...] Denken anderer" eine "Müdigkeit" ein, so Handke in einer weiteren Notiz, eine "Aufgeregtheit über das sorgfältige, alle Voraussetzungen meidende, aber alle Voraussetzungen einschließende Beschreiben andrer" (ES. 164). Trotz gewisser Vorbehalte packte ihn Kierkegaards Werk und er setzte die Lektüre in NB 013 fort.
Neben den genannten Autoren erwähnt Handke in seinen Notizen Max Frisch – "Harmlosigkeit eines Schriftstellers, der zugleich damit allumfassend wird (z.B. M. Frisch): Ausdruck (Ausdruckslosigkeit) einer unaustilgbaren Schuld (uneingestandenen)" (ES. 37) –, Ludwig Hohl (ES. 123) und Knut Hamsun (ES. 171).
Schreibprojekte
Auf dem vorderen Vorsatz ordnet Handke das Notizbuch seinem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zu (ES. 2). Einige Notizen beziehen sich auf den Protagonisten der später aus diesem Schreibvorhaben resultierenden Erzählung Langsame Heimkehr, Valentin Sorger. Es sind vor allem Bemerkungen zu dessen Eigenarten, die Handke notiert, etwa: "V.S.'s Art, allein zu sein: er allein würde niemanden kennenlernen, er nicht (andre wohl, 'sich sonnend am Bahndamm')" (ES. 45), oder: "V.S.: wird nach der Zeit gefragt, – hat keine Uhr; wird nach Feuer gefragt, hat keins; wird nach einer Richtung gefragt, weiß sie nicht" (ES. 182). Auch auf einer Metaebene thematisiert Handke das Schreibprojekt und die Herausforderungen, die damit für ihn einhergingen, wenn er selbstironisch meint: "Bedürfnis, eine lange, zusammenhängende Geschichte zu schreiben, um wieder die Möglichkeit des Versagens zu erleben" (ES. 22).
In den Aufzeichnungszeitraum von NB 012 fällt die Publikation des ersten Journalbands Das Gewicht der Welt. Siegfried Unseld war nicht erfreut über Handkes Entscheidung, den Band im österreichischen Residenz Verlag erscheinen zu lassen. Handke thematisiert eine Querele, die im Briefwechsel dieser Monate dokumentiert ist (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 316ff.; zu dieser Auseinandersetzung vgl. auch Pektor b, S. 143) in einer Notiz: "S.U. mutet mir zu, ein schlechtes Gedächtnis haben zu sollen, während ich doch von meinem Gedächtnis lebe (die Frechheit, wenn jemand einfach behauptet, sich besser zu erinnern als der andre: denn man kann ihn nicht widerlegen – man kann nur eine Gegenaussage machen)" (ES. 43).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält nur wenige eh. Zeichnungen. Die meisten davon sind kleine, stark abstrahierte Darstellungen, z.B. ein Altar, dessen Seitenteile Handke an "Fledermausflügel" erinnern (Z01/NB 012, ES. 66), ein Bushaltestellenschild (Z02/NB 012, ES. 79) oder fünf kleine Symbolmännchen (Z07/NB 012, ES. 188). Zum Teil sind diese in die Zeile eingefügt, etwa "Dobermannohren" (Z04/NB 012, ES. 134) oder der abnehmende Mond (Z06/NB 012, ES. 145). Eine dreiteilige Zeichnung auf ES. 140 unterscheidet sich stilistisch von den anderen: Sie zeigt eine sitzende Katze, einen Kerzenständer und einen Laubbaum (Z05/NB 012).
(Anna Estermann und Johanna Eigner)
Literaturverzeichnis
Born / Handke 2005 = Born, Nicolas / Handke, Peter: Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974-1979. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Hg. von Norbert Wehr. Essen: Rigodon, Nr. 65 (2005), S. 3-34.
Handke / Kolleritsch 2008 = Handke, Peter / Kolleritsch, Alfred: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2008.
Handke / Lenz 2006 = Handke, Peter / Lenz, Hermann: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Hg. und mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Mit einem Essay von Peter Hamm. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2006.
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Hartwig, Ina: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Kronberg, Schirnbornweg 6 (1971-1973). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1992. Online abgerufen: 21.05.2024.
LH = Handke, Peter: Langsame Heimkehr. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
Michaelis, Rolf: Literatur, daß die Fetzen fliegen. Schreiben und Schreien: Kopfmenschen im Handgemenge – wo Wein und Tränen fließen. In: Die Zeit, 10.06.1977, Nr. 25/1977, S. 33 und 35.
Pektor a = Pektor, Katharina: Fotos zur 1. Alaskareise 1977. Polaroids, mit hs. Notizen von Peter Handke, 48 Stück, 08.07.1977 bis 10.07.1977. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/2446. Online abgerufen: 14.03.2024.
Pektor b = Pektor, Katharina: Peter Handke. Dauerausstellung Stift Griffen. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2017.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554409 ]
Material: Notizbuch (Marke Clairefontaine), kariert, Fadenheftung
Format: 13,7 x 8 cm
Umschlag: Gelber Kartonumschlag (Leinenoptik) mit braunem Leinenbuchrücken, Vorderseite: aufgeklebtes Bild (M01/NB 012), Rückseite: Markenlogo
Umfang: 190 Seiten; 203 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I-III, 1-166, ❬167❭, 168-190, I*-III*
Verwendete Schreibstoffe: Fineliner (schwarz, blau, rot), Kugelschreiber (schwarz, blau), Bleistift, Filzstift (schwarz), Wasserfarbe (blau, orange, gelb, grün, rot)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Die Reste einer Seite deuten darauf hin, dass zwischen ES. 170 und ES. 171 eine Seite herausgerissen wurde.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/312
Anzahl der erfassten Entitäten: 316
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22
in Unordnung usw. ist, "im
Moment noch"
so – es wird
sich, nach seinen Worte
r
n jedenfalls , immer
in Zukunft bessern
Ich kämpfte mich im Lauf des
Tages zu einer Wahrnehmung
durch, d.h. zu einem Aufnehmen
von andern in mich und zu einem
Geltenlassen; darüber hinaus zu
einer Verteidigungsfähigkeit dieser
andern: Wahrnehmung als endliche
Verteidigungsfähigkeit andrer gegen
andre (!!)
Schon aufwachen mit einer
Ordnungslust und zugleich
einem Ordnungszwang: der ganze
Tag ist mir verdorben
Sehnsucht nach harmlosen Men¬
schen, bei denen auch ich als
harmloser Mensch gelte (und
mich auch so fühlen kann)
Als ob man schon, indem man
"Regenschwaden"
denkt, den
so schön dahinziehenden Regen
verriete ("die Erscheinungen wie
von den Wörtern abgegrast"
: die
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in Unordnung usw. ist, "im
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Ich kämpfte mich im Lauf des
Tages zu einer Wahrnehmung
durch, d.h. zu einem Aufnehmen
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Schon aufwachen mit einer
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schen, bei denen auch ich als
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mich auch so fühlen kann)
Als ob man schon, indem man
"Regenschwaden"
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von den Wörtern abgegrast"
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Handke, Peter: Notizbuch 23.05.1977-14.10.1977 (NB 012). Hg. von
Johanna Eigner und Katharina Pektor. In:
Ders.: Notizbücher. Digitale Edition. Hg. von Katharina Pektor, Ulrich von Bülow und Bernhard Fetz. Deutsches Literaturarchiv Marbach und Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Release
14.06.2024.
Seite 26.
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Ioannis Fykias (Altgriechisch), Ana Grigalashvili (Georgisch), Angelika Kolesnikow (Russisch), Anna Montané Forasté (Spanisch), Helmut Moysich (Italienisch, Französisch), Martin Springinklee (Steno), Dominik Srienc (Slowenisch) und Dorothea Weber (Latein).
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